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Titel1912

Bemerkungen

Doppelzüngig
Mich als passionierte Raucherin (ich bitte um Nachsicht) trifft es hart: Der deutsche Fiskus greift denen, die dem Nikotin verfallen sind, immer tiefer in die Tasche. Die Tabaksteuer ist zwischen 2002 und 2011 durchschnittlich um rund a70 Prozent angestiegen. Das freut den Bundesfinanzminister. Andere Ministerien, vor allem auch in den Bundesländern, sind wiederum heftig bemüht, die RaucherInnen in ihre Schranken zu weisen und über die Gefährlichkeit ihrer Neigung abschreckend aufzuklären. Wie paßt das zusammen? Das geht beim Tabak wie in der Europolitik. Da empfehlen die bei uns Regierenden den Griechen, Spaniern und Italienern dringend, doch endlich ihre Wirtschaftsstrukturen »wettbewerbsfähig« zu machen. Und gleichzeitig sagen diese PolitikerInnen, der Export deutscher Produkte, auch in diese Länder, müsse gepflegt und gefördert werden. Politik, lerne ich daraus, spricht mit zwei Zungen.

Marja Winken


Notpatient: Gesundheitswesen
In Portugal hat die Krise das Gesundheitswesen erreicht: Im Land gibt es derzeit weniger Blutspender als früher. Hält dieser Trend an, könnte Blut in den Krankenhäusern knapp werden, räumt das zuständige staatliche Institut ein. In den ersten vier Monaten 2012 habe man 16 Prozent weniger Blut erhalten. Das liegt unter anderem daran, daß die Regierung im Kampf gegen das überhöhte Staatsdefizit bei den Vergünstigungen für Blutspender drastisch spart – Blutspender waren bis Ende 2011 von den Gebühren im staatlichen Gesundheitswesen generell befreit. Heute bekommen die Spender nur noch fünf Euro bei einem Arztbesuch erlassen. Sucht ein Notfallpatient nachts das Krankenhaus auf, sind seit Jahresanfang 20 Euro zu zahlen. Auch für Röntgen-, Ultraschall- oder Laboruntersuchungen ist eine Kostenbeteiligung fällig. Betroffen von diesen Maßnahmen sind vor allem Rentner und Arbeitslose. Eine soziale Abfederung wird es unter der rechtskonservativen Regierung, die alle EU-Sparauflagen ohne Wenn und Aber erfüllt, nicht geben. Kranke Menschen gehen in Portugal einer unsicheren Zukunft entgegen.
Karl-H. Walloch


Wachstumor
Ein deutscher Fußballverein hat von einem spanischen einen Spieler für vierzig Millionen Euro Ablösesumme erworben. Früher verstand man unter Sportgeschäft einen Laden, in dem Turnschuhe und Badehosen zu haben waren. Heutzutage sind Sportler Geschäftsgegenstand wie Stoppuhren. Der Humanismus wird versachlicht, damit er profitabel wird.
Günter Krone


Spitzelspitzel
Schutzmänner in einer Doppelrolle: Jetzt kam heraus, daß fast jeder dritte Aktivist des bräunlichen »Thüringer Heimatschutzes«, aus dem dann die neonazistischen Untergründler hervorgingen, dem Verfassungsschutz Dienste leistete. Ein kostspieliges behördliches Tätigkeitsfeld, personalintensiv. Aber offenbar feinsinnig organisiert: Wie sollte man absichern, daß Spitzel sich auch wirklich heimattreu verhalten? Man gab ihnen V-Leute zur Begleitung, deren Aufgabe es ist, die Spitzel zu bespitzeln. Auf diese Weise kommt so eine Gesinnungsgemeinschaft auch im Hinblick auf die Mitgliederzahl zu der notwendigen Stärke. »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte«, stand auf den Transparenten des Thüringer Heimatschutzes. So viel Zuschußgeld wäre doch in der Kasse des Verfassungsschutzes noch drin gewesen, um die Heimatschützer eine weitere Zeile aus dem Liede des Ernst Moritz Arndt anbringen zu lassen: »Wir wollen heute Mann für Mann mit Blut das Eisen röten.«
M. W.


Auftragsschreiber
Sogar Michel, der Dorfdepp, hat mittlerweile geschnallt, daß die Agenturberichte über Syrien zumeist üble Kriegshetze sind. Die deutsche Bürgermehrheit begreift seit geraumer Zeit, daß es sich bei dem in Syrien marodierenden Gelichter um Verbrecher handelt, die erst das Nachrichtenkartell aus den kommerziellen Agenturbetrieben dpa, dapd & Co. in seinen Texten zu Revolutionären und Freiheitskämpfern adelt. Mehrheitlich sind sie einheimisch, jedoch vom Ausland bezahlt und bewaffnet. Den großen Rest der mörderischen Banden stellen die jenseits der Grenzen angeworbenen Söldner, und allesamt werden geschult, programmiert, angeleitet, befehligt von gewissenlosen US- beziehungsweise NATO-Spezialisten, vulgo: westlichen Militärberatern.

Es ist grotesk, diese Syrer als Aufständische, hilfsweise als Rebellen zu etikettieren oder mit dem absichtsvoll verallgemeinernden Ausdruck Oppositionelle oder gar der albernen Wortschöpfung Aktivist – Steigerungsform: Menschenrechtsaktivist – zu benennen. Es zeigt sich, wie unbefriedigend die Redakteure ihre Dienstleistungspflicht als Giftmischer der westlichen Wertegemeinschaft erfüllen: alles zu abgelutscht, zu primitiv, zu offensichtlich verlogen. Schießwütige Paramilitärs als »Freie Syrische Armee« auszugeben und ihre zivilen Hintermänner mit nach Demokratie und Anstand duftenden Funktionsbezeichnungen wie »Syrischer Nationalrat« auszustatten, erzeugt in Deutschland keine neuen Sympathisanten mehr und macht keine Kriegslaune.

Inzwischen spricht sich sogar herum, was es mit der »Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte« (Sitz: London) auf sich hat: So nennen Agenturtexter das halbe Dutzend Geschäftsleute, die ihren Lebensunterhalt mit syrienfeindlicher Agitprop verdienen und ihr Geld sowie ihre »Informationen« von den US-Geheimdiensten bekommen. Für das Imperium lohnt sich der kleine Aufwand. Seine Eliten in den USA wie in Deutschland wissen nur zu genau, daß der Krieg um die uneingeschränkte Herrschaft über den Nahen und Mittleren Osten im Kern auf mentaler Ebene entschieden wird, auch wenn an Ort und Stelle weiterhin physisch gebombt, geblutet, gemordet, verstümmelt und vergewaltigt wird. Selbstverständlich tobt auch bei uns dieser Kampf um die Köpfe, weshalb unser journalistisches Hauspersonal zum Thema Syrien übermäßig häufig die ölige Abfüllung »Château Merkel-Westerwelle-Steinmeier-Trittin« serviert, um ausreichend Besoffenheit sicherzustellen.

Damit es nicht noch länger dauert, bis sogar die Nachrichtenvermelder von ARD-Tagesschau und ZDF-heute den desinformatorischen Nachbesserungsbedarf in den Formulierungen der dpa-, dpad-, AP-, Reuters- und AFP-Meldungen bemerken, weise ich speziell sie hier nachdrücklich darauf hin. Werte Kollegen, Sie kommen nicht darum herum, auch mal ein paar eigene Kreationen zu liefern. Immer nur Agenturtexte zu kopieren langt nicht. Wenigstens formal sollte sich Ihr Angebot von dem in Bild und auf Spiegel online wieder unterscheiden. Als Besatzungen der »Flaggschiffe« (Selbsttitulierung) des deutschen Nachrichtenwesens haben Sie schließlich gerade auf dem Spezialgebiet Kriegstreiberei einen Führungsauftrag. Wäre das nicht so, dann könnten die Fernsehanstalten öffentlichen Rechts ihre Nachrichtenredaktionen ja gleich zu dpa auslagern (»outsourcen«).
Volker Bräutigam


Alles Spitze
Jetzt sind die Parteien eifrig und teils mühevoll damit beschäftigt, sie ausfindig zu machen und zu küren: die Spitzenkandidaten oder -kandidatinnen für die Bundestagswahl im nächsten Jahr. Bei den Grünen findet dafür eine »Urwahl« der Mitglieder statt, die wirklichen AnwärterInnen sind schon von oben »gesetzt«, von unten kommen weitere Bewerber hinzu, bei denen aber klar ist, daß sie keine Chance haben. So geht Basisdemokratie. Die Sozialdemokraten wissen noch nicht, wen sie wie wählen sollen, denn ihr Parteivorsitzender kann sich noch nicht zwischen -meier und -brück entscheiden. Außerdem ist noch abzuwarten, wie sich die Werte im Ranking des politischen Spitzenpersonals weiterentwickeln, auch im Parteiengeschäft sind die Gesetze des Marktes zu beachten. Die Christdemokraten müssen sich nicht den Kopf zerbrechen, wer wollte schon anzweifeln, daß Angela Merkel Spitze ist – wo auch immer.

Beim Wahlvolk wird die Frage nach der Spitzenkandidatin oder dem Spitzenkandidaten meist mit der nach dem »K« gleichgesetzt, der Kandidatur für das Kanzleramt. Ganz so einfach ist das jedoch nicht, sobald man an andere Parteien als CDU/CSU und SPD denkt, denn bei den Grünen muß die Wahlspitze zweigeschlechtlich sein, und es gibt ja nur eine Kanzlerin oder einen Kanzler. Außerdem ist die Bundesrepublik nicht gleichzusetzen mit dem Land Baden-Württemberg. Selbst bei den Sozialdemokraten wäre zu überlegen, ob sie wirklich vor einer »K-Frage« stehen – wohl eher vor einer »Vize-K-Frage«? In dieser Hinsicht haben es FDP, Linkspartei und Piraten leichter; an den Toren des Kanzleramtes können sie nicht rütteln. Sie brauchen das Reklamebild einer Spitze, ein »K« muß nicht draufstehen. Die Spitzenkandidatur bei einer Bundestagswahl – hat sie eine Rechtsgrundlage? Im Grundgesetz kommt sie nicht vor. Im Bundeswahlgesetz auch nicht. Es gibt nur Landeslisten für die Zweitstimme und darauf einen ersten Platz, keine Bundesliste. Spitzenkandidaten im Bund haben damit noch nicht den Vortritt bei der Besetzung der Zweitstimmenplätze im Bundestag. Aus der Deklaration zum Spitzenkandidaten oder zur Spitzenkandidatin ergibt sich kein Anrecht auf Spitzenpositionen im dann gewählten Bundestag, auch nicht der Anspruch darauf, von der eigenen Partei gegebenenfalls für die Kanzlerkandidatur benannt zu werden.

Also läßt sich festhalten: Die Konstruktion »Spitzenkandidatur« bei der Bundestagswahl dient Reklamezwecken, sie ist ein Produkt des politischen Marketings. Ihren Effekt hat sie auch darin, öffentliche Aufmerksamkeit von den gesellschaftspolitischen Problemen ab- und auf Personaldebatten hinzulenken.
Arno Klönne


Ein frommer Kommunist
Gerahmt hängt eine Fotografie, die ihn in jungen Jahren zeigt, im Innern der Trinitatiskirche zu Mannheim, neben denen seiner Amtskollegen. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es sich da ausnehmen mag. Denn Erwin Eckert wurde 1931 nach mehreren kirchenrechtlichen Verfahren seines Pfarramtes enthoben. Er hatte es nicht in der erst am Beginn der 1950er Jahre erbauten Trinitatiskirche ausgeübt, aber in diesem Stadtteil. Er war der Seelenhirt von etwa 70.000 mehr oder weniger gläubigen, jedenfalls der Kirche angehörenden Christen gewesen.

Das Amt war dem Manne etwa zur gleichen Zeit entzogen worden, als ihn die sozialdemokratische Partei ausgeschlossen und er daraufhin die Mitgliedschaft der Kommunistischen Partei erworben hatte. Das machte ihn, den langjährigen geschäftsführenden Vorsitzenden des Bundes religiöser Sozialisten, freilich zu einem »Fall«. Der dauerte bis in das Jahr 1999. Dann rehabilitierte die badische Kirchenleitung den Mann, zu dessen Biografie ein ausdauernder Kampf gegen den an die Macht strebenden Faschismus und gegen den Militarismus gehört, dazu Jahre der Gefangenschaft während der Nazidiktatur.

Wie kein anderer hat sich der Marburger Pädagoge und Historiker Friedrich Martin Balzer mit dem Leben und den Verdiensten Eckerts befaßt. In der langen Reihe der Veröffentlichungen, die Balzer in viereinhalb Jahrzehnten vorlegte, bildet die bisher letzte ein Dokumentenband, in dessen Zentrum die Artikel Eckerts aus den Jahren 1930 bis 1933 stehen. So ist einem Manne ein literarisches Denkmal gesetzt, für das er – absichtslos – die Bausteine selbst lieferte. Für Eckert waren das Christ- und Pfarrersein und die Mitgliedschaft in einer politischen Partei, die die kapitalistische Gesellschaft beseitigen wollte, vereinbar, denn, so eine seiner Auskünfte, es gebe zwischen den humanen Zielen des Christentums und denen der Sozialisten eine enge Verwandtschaft. Zudem ließen die Kommunisten den Christen ja den Himmel.
Kurt Pätzold

Friedrich Martin Balzer: »Protestantismus und Antifaschismus vor 1933. Der Fall des Pfarrers Erwin Eckert in Quellen und Dokumenten«, Pahl-Rugenstein Verlag, 527 Seiten, 24,90 €



Walter Kaufmanns Lektüre
Ein Roman bewährt sich, wenn er noch lange gegenwärtig bleibt – das ist fraglos so bei Paul Austers »Sunset Park«: Man vergißt Miles Heller nicht, noch Bing Nathan, den Freund, teilt das Leben der jungen Frauen Ellen und Alice in dem besetzten New Yorker Haus, nimmt Anteil am Kummer der Eltern des Miles Heller, der nach dem Unfalltod seines Stiefbruders, an dem er sich schuldig wähnt, sieben Jahre in verschiedenen Landstrichen der USA verschollen bleibt. Und mag einen auch seine unbändige Liebe zu der minderjährigen Pilar, die ihn über lange Strecken in Florida zu halten vermag, nicht als wirklichkeitsnah anmuten, sie selbst, die jüngste der Lopez-Schwestern, bleibt einem in ihrer kindlich-fraulichen Art, ihrem zierlichen, sehr südländischem Äußeren deutlich in Erinnerung. Auch Miles Hellers leibliche Mutter, die Schauspielerin, die ihren vierjährigen Sohn der Karriere wegen aufgab, vergißt man nicht, noch den letzten ihrer drei Ehemänner, den toleranten, großherzigen Filmproduzenten Korngold, so selten der auch ins Geschehen eingreift. Kurzum, alle von Paul Auster erdachten Menschen (es fehlen etliche in der Aufzählung) gehen einen an. Mögen sie sich auch stark unterscheiden, durch ihre Nähe zu Miles Heller bleiben sie eine Schicksalsgemeinschaft – welch kunstvoller Aufbau! Kein Handlungsstrang ließe sich opfern, ohne das Gewebe zu beschädigen: Miles Heller mußte sieben Jahre lang verschollen bleiben, mußte seine Herkunft und Vergangenheit auch gegenüber Pilar verschweigen, sein bester Freund mußte mit Miles‘ Eltern in Verbindung bleiben, anders wären sie in ihrer Ungewißheit verzweifelt. Und war es nicht folgerichtig, daß für Miles Heller die Zufluchtsuche im besetzten Haus von Sunset Park tragisch endete ...? In Paul Austers Roman geschieht nichts, das einem im Nachhinein zweifelhaft erscheint. Dies ist ein Gegenwartsroman von Bestand.
W. K.

Paul Auster: »Sunset Park«, übersetzt von Werner Schmitz, Rowohlt Verlag, 320 S., 19,95 €



Bleiben und gehen
Jens Wonneberger schreibt stille, unspektakuläre Romane über Schicksale von Menschen, die quasi die »Ureinwohner« der »neuen« Länder sind und sich nunmehr seit über zwanzig Jahren recht und die meisten mehr schlecht eingerichtet haben.

Martin Rohrbach kommt aus der Stadt zurück in sein Heimatdorf, um den Vater zu begraben. Er verweilt länger und denkt sogar daran zu bleiben. Die alten Freunde stehen abends an der Trinkhalle. Die Jugendliebe hat sich gerade vom früheren besten Freund scheiden lassen. Der alte Lindner will ihm unbedingt ein Stückchen Boden abkaufen. Rohrbach ist ein Studierter, aber er hat einen Job in einem Umfrageinstitut, der ihn langweilt.

Nichts, auch gar nichts Besonderes, aber so genau, so stimmig bis in die kleinsten Wendungen der Sprache – nie larmoyant oder anklagend, ein bißchen komisch sogar und von einer Melancholie, die die Sehnsucht nicht aufgibt und dennoch weiß, daß nichts so kommt, wie man es sich wünscht. Gregor, der Freund von damals, träumte immer von Kanada, nun geht er. Wo wird er ankommen? Der alte Lindner will das Stück Land, weil er einen Schatz dort vergraben weiß. Die vergrabene Kiste ist verrottet, aber ein Mühlstein wird geborgen. »Die Leute reden oft vom Wind«, heißt es im Buch. »Bis vor ein paar Jahren brachte der Westwind den Gestank vom Schweinestall herüber ... Der Nordostwind kommt von der Müllkippe.« Kann man da bleiben wollen?

Wer stille, unspektakuläre Romane liebt und sich an Sprache begeistern kann – der sollte zu Jens Wonnebergers Büchern finden.
Christel Berger

Jens Wonneberger: »Sture Hunde«, Steidl Verlag, 233 Seiten, 19,90 €



Abschied
Achtzehn Jahre. Ein schönes Alter für ein anspruchsvolles Periodikum wie den Icarus, die Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur, herausgegeben von der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM). Icarus hatte seine Höhenflüge. Jetzt ist er abgestürzt, im September erschien die letzte Ausgabe. Die Zeitschrift war eine Plattform, um politische, philosophische, menschenrechtliche, historische, ökonomische, soziale, rentenrechtliche, juristische und kulturelle Argumente auszutauschen. Zu den etwa 250 Autoren, die wie die Redaktion ehrenamtlich arbeiteten, gehörten Historiker, Politologen, Völkerrechtler, Juristen und Rechtswissenschaftler, Philosophen, Friedensforscher, Theologen, Ökonomen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Staatsrechtler, Diplomaten, Ingenieure, Journalisten, Naturwissenschaftler, Mediziner, Agrarwissenschaftler, Sporttheoretiker, Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaftler, Literatur-, Theater- und Filmwissenschaftler, Schriftsteller und bildende Künstler. Zu ihnen zählten Persönlichkeiten wie der kürzlich verstorbene Uwe-Jens Heuer und eine ganze Reihe von Autoren, die auch für Ossietzky schreiben wie Friedrich Wolff oder Ralph Hartmann. Breiten Raum nahm die Kultur ein. Das bunte Spektrum kam bei den Lesern gut an, dennoch wurde ihre Schar kleiner. Letztlich verursachten finanzielle Gründe das Sterben der Zeitschrift.

Das Icarus-Doppelheft 3-4/06 zeigte auf dem Titel einen stürzenden Ikarus auf schwarzem Grund; das Heft dokumentierte Schicksale von Menschen, die nach der Einverleibung der DDR aus dem Leben schieden. Eine der Ausgaben, die noch heute nachgefragt sind.

Auch wenn sie sich im Icarus nicht mehr widerspiegeln können, wird der Freundeskreis »Kunst aus der DDR« weiterhin Ausstellungen in den Räumen der GBM in Berlin-Lichtenberg zeigen, damit Künstler aus der DDR nicht in Vergessenheit geraten. Auch Künstler anderer Länder – so Nils Burwitz aus Spanien, Alfred Hrdlicka aus Österreich oder der kubanische Maler Yoel Moreno-Aurioles Pupo – hatten hier schon Gelegenheit, ihre Werke dem deutschen Publikum nahezubringen.

In einem Icarus-»Nachruf« schreibt die Malerin, Grafikerin und Schriftstellerin Heidrun Hegewald: »Mit dem Icarus veröffentlichen wir Zeitzeugen ein Erinnerungswerk, um zu hinterlassen, was mit Kultur in einer sozialistischen Zivilisation gemeint war. Wir pflegen die Kultur des Gedächtnisses – das Gedächtnis der Kultur. Wir kultivieren – und müssen bereit sein, das in die Form der Vergangenheit zu setzen – ein humanistisches Gegengewissen. Der Icarus ist in diesem Sinn ein Kompendium großartiger Leistung, an der keine qualitativen Abstriche gemacht werden dürfen ... Wir sind Realisten und tragen unsere Kämpfe in Würde aus. So bleibt uns die Verabschiedung von der Idee und der großartigen jahrelangen Verwirklichung im Icarus. Dieser war auch mein Forum. Es schmerzt mich ganz persönlich, diesen Verzicht ertragen zu müssen.«

Die Zeitschrift Icarus hat in einer bestimmten historischen Periode ihre Aufgabe erfüllt.

Maria Michel


Wege – Irrwege
Im hektischen Berliner Zentrum gehören die kleinen Galerien zu den Ruheplätzen, die der Kunstfreund gern besucht. Eines dieser Kunsttempelchen ist die »Inselgalerie« in der Torstraße (nomen est omen), seit Jahren von Ilse-Maria Dorfstecher mit Geschick und Gespür geleitet.

Jetzt präsentiert die Galerie in ihrer 195. (!) Ausstellung zwei Künstlerinnen, die gegensätzlicher nicht sein könnten, aber manches miteinander verbindet: die Berliner Bildhauerin Carin Kreuzberg und die spanische Malerin Guadalupe Luceño. Kreuzberg ist mit mehreren ihrer vor allem in den siebziger und achtziger Jahren entstandenen grazilen Frauenfiguren vertreten. Sie äußert über sich selbst: »Mein Thema war von Beginn an die Figur, ich wollte kein Modell modellieren, ich versuchte stets, eine Idee auszudrücken. Porträts waren für mich Ausdruck von Zuwendung. Im Laufe der Zeit variierte ich bestimmte Themen immer wieder. Meine schmalen Figuren waren keinem künstlerischen Vorbild geschuldet, sondern entsprachen meinem Körpergefühl.« Auch ihre reizvollen Denkmalfiguren – so das Heinrich-Heine-Denkmal im Berliner Heine-Viertel und die an E.T.A. Hoffmann erinnernde Bronzestele auf dem Gendarmenmarkt – belegen ihren künstlerischen Rang.

Die eigentliche Entdeckung für den Ausstellungsbesucher sind aber die Gemälde der in Madrid lebenden Guadalupe Luceños, abstrakte Gebilde in zumeist starken, aber auch zarten Farbtönen, die in Zyklen wie »Gedächtnis der Tempel« und »Verlorene Labyrinthe« Phantasie und Assoziationsvermögen gleichermaßen fordern. Beeindruckend sind einige Bilder, die auf musikalische Erinnerungen zurückgehen (die Malerin absolvierte auch ein Musikstudium). Die Ausstellung begleitet ein ausgezeichnet gestalteter Katalog, der neben der Wiedergabe einiger zentraler Werke informative Beiträge von Elisabeth Walther-Bense und John Erpenbeck enthält.
Dieter Götze

Wege – Irrwege. Eine deutsche Bildhauerin und eine spanische Malerin im Dialog, 30.8.–22.9.12, Inselgalerie, Torstraße 207, 10115 Berlin. Katalog 5 €



Brokdorf-Geschichten
»Vom Widerstand gegen ein Atomkraftwerk« – so der Untertitel ihres Kinofilms »Das Ding am Deich« – berichtet Antje Hubert. Sie rekonstruiert den Konflikt um Brokdorf, illustriert ihn mit reichhaltigem Dokumentationsmaterial und gestaltet flankierend exemplarische Einzelporträts. So wird in Doku-Szenen die Geschichte des Widerstands den ruhigen Bildern aus den Wohnstuben der inzwischen gealterten Betroffenen gegenübergestellt. Das Geschehen spannt sich von den Versammlungen regionaler Initiativen Mitte der Siebziger über die Großdemos in den Achtzigern mit ihren Hunderttausenden Teilnehmern – von der Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Hubschraubern gejagt – bis hin zum schließlich ans Netz gehenden Atomkraftwerk Wilster Marsch, ein halbes Jahr nach Tschernobyl.

Wie man das alles durchsteht und nicht aufgibt, das interessierte die Regisseurin Antje Hubert. Gut ein Jahr vor Fukushima begann sie mit dem Drehen: Marschbilder, langgezogene Menschenkolonnen, prügelnde Polizisten, Reiterstaffeln – das alles kennt man. Brokdorf, ein Schauplatz, wo der Staat aus Wyhl gelernt hatte. Noch in der Nacht der Erteilung der Genehmigung kamen die Bauleute auf den Bauplatz mit Hubschraubern, Lastern, Stacheldraht und Hundebewachung. Da blieb den Anwohnern nicht mal Zeit, Klage einzureichen. Einer Bauplatzbesetzung wollte die Polizei zuvorkommen, das mißlang, kostete aber Millionenbeträge.

Bürgerkrieg. Mitten im Frieden. Das lockte die Dorfbewohner hinter dem Deich hervor. Damals veränderte sich ihr Leben. Zum Beispiel das von Ali Reimers. Ein stiller Bauer. Als er erkennt, daß man ihn hinters Licht führen will und dies ganz systematisch, läuft er zur Hochform auf. Der weißhaarige Ali erinnert sich: Wir waren gutgläubig, wir wollten nur unser Leben leben, aber wir wurden betrogen und belogen, und dann glaubten wir ihnen nicht mehr. Was ist das hier für ein Staat, der Hunde auf seine Menschen hetzt?

Mit seinen Interviews strahlt der Film Ruhe aus inmitten all der Demonstrationshektik vergangener Tage. Die Geschichten von Ali Reimers und seiner Frau oder dem Meteorologen Karsten Hinrichsen, der in seiner Küche mit Ausblick auf das AKW über den kapitalistischen Staat nachdenkt, fesseln. Aus jedem Wohnzimmer sieht man den Reaktor. Freundliche Weißhaarige in ihren Häusern, die dem Strahlentod hilflos ausgeliefert wären, käme es zu einem GAU. Aus den Kellern holen sie Transparente und Flugblätter stapelweise hoch. Karsten Hinrichsen sitzt in seiner Küche und lacht verschmitzt. »Ich habe mir nie Illusionen gemacht«, sagt er. Man dürfe nicht aufgeben. Da bricht Fukushima in den Film ein, und sofort sind alle wieder auf der Straße. Aber auch schon vorher sah man sie gemeinsam mit Atomkraftgegnern aus ganz Deutschland eine lange Menschenkette für Abschaltung bilden.

Die Macht ist groß, so scheint es, aber die Gegenmacht ist größer, sie weiß es oft nur nicht. Die Widerständler von Brokdorf jedenfalls werden sich nicht kleinkriegen lassen. Der Mann mit dem langen Atem, Karsten Hinrichsen, ergreift das Megafon während der Fukushima-Mahnwache und ruft den jungen Leuten zu: »Wir sind müde geworden, immer sind wir müde geworden, wir dürfen nicht mehr müde werden, wir müssen schneller sein als das Unglück!«
Anja Röhl

Zuschrift an die Lokalpresse
Also wissense, det Leben in unsere Stadt wird doch immer jefährlicher! Tächlich wer`n Leute uffn Berliner Bahnhöfen von Artjenossen kurz und kleen jedroschen, und jetzte mußte dir ooch noch vor die in die Hauptstadt lebende Viechter in acht neh`m! Det Wildschweine und Füchse unsere abendlichen Heimweje kreuzen, is ja nischt Neuet, aba neuerdings stürzen sich ooch noch tollwütije Fledermäuse auf den friedlichen Bürjer! Ob die direkt von dem Dracula komm`? Det wär`n ja nich die ersten aus Rumänien, die uns det Leben schwer machen! Da war doch im Berliner Kurier zu lesen, det een unbekannter Bürjer von eene fliejende Maus jebissen worden is, und zwar in die Mitte! Nee, nich, wat Sie denken, die Mitte von die Dorotheenstädtische Straße is jemeint! Dabei wollte der leider immer noch unbekannte Bürjer, tierlieb, wie die Berliner nu mal sind, den Flatterhasen bloß een bißken anfuttern, und det war nu der Dank! Und in Karlsruhe sind doch Tatsache Sticker zwanzig von die Biester in tiefschlafende Nacht in eene Wohnung einjeflattert! Da war natierlich nischt mehr mit Ruhe, noch nich mal in Karlsruhe! Det stand ooch im Kurier, natierlich een Tach späta, weil, det hat sich ja ooch een Tach späta zujetraren. Nu frare ick mir und Ihnen, wie det so weiterjeh`n soll? Terroristen, Extremisten, Salafisten – und nu noch tollwütije Mäusejeschwader! Da bin ick heilfroh, det sich die Bundeswehr in Zukunft nich nur am Kundus und sonstwo in de Welt für uns ins Zeuch lejen darf, sondern bei innere Jefahren direkt vor und hinter de Haustüre! – Iphigenie Kalmutzke (56), Sanitärfachfrau (FH), 15745 Wildau b. Berlin
Wolfgang Helfritsch


Absetzen und Absatz
»In unseres Vaters Apotheke sind viele Rezepte«, schrieb Goethe im Herbst 1782 an Lavater.

Über eine gesundheits-freundliche Veranstaltung berichtete die Presse vor einigen Tagen so: »Dr. M. leitet eine Apotheke in Berlin. Er beantwortete allgemeine Fragen zu rezeptpflichtigen und gekauften Medikamenten und gab Auskunft zu möglichen Nebenwirkungen der Mittel und darüber, welche Folgen das zu frühe Absetzen von Rheuma-Medikamenten haben kann.«

Beispielsweise für die Kassen der Apotheker.
Felix Mantel