erstellt mit easyCMS
Titel1912

Viel Geschrei auf der Piazza  (Heinz Kersten)

Nein, die bundesdeutsche Regierungskoalition hatte nicht Ferien im Tessin gemacht. Daß die Farben Schwarz/Gelb das ganze Stadtbild von Locarno beherrschten, war dem 65. Internationalen Filmfestival geschuldet, das stets im Zeichen des Leoparden steht, den als goldene Trophäe auch die Preisträger der Wettbewerbe mit nach Hause nehmen können. Jeden Abend nehmen dazu noch auf der Bühne der Piazza Grande, mit 8.000 Plätzen größtes Freiluftkino, irgendwelche Zelebritäten Leoparden als »Excellence Awards« entgegen. So lockt das Festival jedes Jahr Cineasten-Prominenz an den Lago Maggiore, diesmal unter anderen Ornella Muti, Charlotte Rampling, Alain Delon und Harry Belafonte.

Tatsächlich steht Locarno im Schatten von Venedig, das nur wenige Tage später seine Tradition behauptet, und der vorangegangenen Konkurrenten Karlovy Vary, Cannes und Berlin. Da bleibt nicht viel an Qualität übrig, und die Tessiner ersetzen Klasse durch Masse. Bei 300 Filmen findet jeder noch etwas Lohnendes, zumal auch aus besseren Kinozeiten. Solche Gigantomanie beschert aber auch immer wieder die Qual der Wahl, zumal wenn Chronistenpflicht den Kritiker auf Aktualitäten verweist.

Allein im Hauptwettbewerb gab es dreizehn Weltpremieren und drei Debüts. Die Retrospektive galt diesmal Otto Preminger, der als vertriebener Österreicher in Hollywood Karriere machte. Viele seiner 38 Filme wurden hier zu Klassikern. Ausschließlich mit schwarzen Darstellern besetzt, war damals »Carmen Jones« eine Sensation, erhielt 1955 in Locarno den Goldenen Leoparden und war nun ebenso wiederzusehen wie Marylin Monroes letzter Film »River of no Return«, ihre einzige Zusammenarbeit mit Preminger. Wie jedes Jahr gab es in Locarno eine Schweizer Ausgrabung: »S-Margritli un d’Soldate«, 1940 ein Beitrag zur eidgenössischen geistigen Landesverteidigung mit einem Auftritt des Schweizer King of Swing Teddy Stauffer, der damals auch noch in Deutschland spielen durfte.

Vor allem aber bietet Locarno neuen heimischen Filmen ein Forum. Auf der Piazza kündigte sich die Invasion »Made in Svizzera« mit viel Geschrei an. Ein Baby treibt damit ein junges Ehepaar (Alexandra Maria Lara, Sebastian Blomberg) aus den Betten auf die Landstraße, denn nur im Auto beruhigt sich der sexfeindliche Schreihals, wird aber an einer Raststätte samt Auto unfreiwillig mitgeklaut. Woraus sich ein Roadmovie mit Sex und Crime entwickelt, das freilich die Spannung nicht ganz durchhält. Immerhin gehörte Christoph Schaubs »Nachtlärm« zu den unterhaltenderen Beiträgen und hat wie vor drei Jahren »Julias Verschwinden« (mit Corinna Harfouch und Bruno Ganz) vom gleichen Regisseur bereits wieder den Weg in unsere Kinos gefunden.

Auf Exportchancen hofft auch Michael Steiner mit seinem »Missen Massaker«, das aber die beabsichtigte Satire auf Miss-Wahlen mehr an billigen Horror verschenkt. Viel Kindergeschrei gab es auch in dem Film »Lore« der Australierin Cate Shortland über die Flucht der Sprößlinge eines kapitulierenden hohen SS-Offiziers durch das besiegte Deutschland zu ihrer Großmutter nach Hamburg. Wohlfeile NS-Versatzstücke begleiten die hitlergläubige Titelheldin mit ihren jüngeren Geschwistern auf ihrem von mitleidlosen Landsleuten gesäumten Weg, auf dem sie sich auch mit einem sie beschützenden jungen Juden auseinandersetzen muß. Mit ihrem Publikumspreis für einen Piazzafilm konnten sich dazu nur noch die Zuschauer blamieren.

Die Jury vergab ihren Hauptpreis an »La fille de null part« von Jean-Claude Brisseau. Die Begegnung eines einsamen Professors mit einer jungen Obdachlosen variierte am besten das mehrfach thematisierte Verhältnis alter und jüngerer Generation. Einem modischen Trend folgend blieb dabei auch Demenz nicht ausgespart: ein verdienter Preis der Semaine de la Critique für »Vergiß mein nicht« von David Sieveking aus Deutschland. Die erkrankte Protagonistin war in den sechziger Jahren politisch aktiv – sonst heute nur noch nachgespielte und Video-Erinnerungen an einen Banküberfall von 1978 in »Operation Libertad« des Schweizer Nicolas Wadimoff. Aktuelles im Programm beschränkte sich auf vordergründige Dokumentationen über Libyen und Afghanistan und eine aufschlußreichere über die Anti-Putin-Opposition von zehn Moskauer Regie-Absolventen »Winter, Go Away!«. Der Titel erinnerte an die DEFA-Dokumentation »Winter ade« von Helke Misselwitz, 1988 mit ihren unkonventionellen Frauenporträts beim Leipziger Dokumentarfilmfestival eine kleine Sensation, Vorbote eines filmischen Tauwetters.