Der Autor, Jahrgang 1927, Pfarrer in Nordhessen, ist vor einigen Monaten gestorben. Im Nachlaß fand sein Sohn diesen Text (hier leicht gekürzt).
Das Kriegsende erlebte ich in Burgstädt, etwas nördlich von Chemnitz, in einem provisorischen Reservelazarett, einem ehemaligen Gasthaus. Wir mögen etwa einhundert Verwundete gewesen sein, Rekonvaleszenten. Die Amerikaner hatten uns um den 10. April herum »erobert« und bewachten uns. Am 8. Mai hieß es, der Krieg sei aus. Am nächsten Morgen war kein amerikanischer Posten mehr da; die hatten wohl gefeiert. Unter den »Kumpels« war Ratlosigkeit. Ich dachte, fühlte: Gott sei Dank, nun ist es endlich vorbei.
Was war vorbei? Ich hatte erlebt: wie russische Gefangene mit bloßen Füßen an uns vorbeizogen im Sommer 43 und Gras vom Straßenrand aßen; wie andere im Sommer 44 unsere Abfalltonne leerten und sich die gärende, stinkende Brühe in die Taschen stopften; wie gelb die KZ-Frauen in der Munitionsfabrik in Brahnau bei Bromberg aussahen, wie sie über die Betonstraßen zogen, mit den Holzschuhen klapperten, zu viert sich unterhakten und dabei sangen; wie das ist, wenn sich Menschen totschießen; wie ich totschoß; wie man in einem Sanitätsauto zu fünft liegt bei minus 20 Grad und bekotzt wird; wie im Schiffsladeraum voller Schwer- und Schwerstverwundeter zwei Wehrmachtshelferinnen mit zwei Blechdosen versuchten, den Soldaten bei ihrer Notdurft zu helfen; wie der Volkssturmmann starb; wie Wunden in Verbandsmaterial aus versupptem Papier bestialisch stinken; wie der Zahlmeister sich die Pulsadern aufschnitt; wie der Kumpel aus Tuttlingen verrückt wurde; wie der Blindgeschossene schrie; wie ein frisch amputiertes Bein aussieht; wie der Kumpel einen Blutsturz bekam; wie die Läuse total von uns Besitz ergriffen; wie das ist, wenn der Zug in die Luft gesprengt wird und man durch das Abteil fliegt; wie Jagdbomber einen beschießen; wie gut verschimmeltes Brot und eine Zigarette schmecken, wenn der Hunger beißt.
Am 11. Mai schrieb uns der Chefarzt einen Entlassungsschein, am 19. Mai fand ich Mutter und Geschwister wieder. Gott sei Dank, nun war es endlich vorbei.
Theodor Fontane schildert im »Stechlin« eine kleine Szene mit dem Dorfschulzen Kluckhuhn, der als Soldat 1864 den Sturm auf die Düppeler Schanzen mitgemacht und dabei ein Bein verloren hatte. Da sagt Kluckhuhn: »Wenn ein Bataillon ran muß und ich stecke mittendrin, ja was will ich da machen? Da muß ich mit. Und baff, da lieg’ ich. Und nu bin ich ein Held. Aber eigentlich bin ich keiner. Es ist alles bloß ›Muß‹, und solche Mußhelden gibt es viele.«
Ich glaube, so einer war ich auch, mit auf den Tag genau siebzehn Jahren und sieben Monaten, am 8. Mai 1945.