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Titel192013

Faule Äpfel  (Ralph Hartmann)

»Unser Vaterland ist ein gesegnetes Land; es wachsen hier freilich keine Zitronen und keine Goldorangen, auch krüppelt sich der Lorbeer nur mühsam fort auf deutschem Boden, aber faule Äpfel gedeihen bei uns in erfreulichster Fülle, und alle unsere großen Dichter wußten davon ein Lied zu singen.« Dieses Loblied auf unser deutsches Vaterland sang Heinrich Heine in der Vorrede zu seinem Versepos »Atta Troll. Ein Sommernachtstraum«. Die Regierenden in den deutschen Landen waren da stets anderer Meinung.

Urteilt man nach den Reden des gegenwärtigen Herrn im Schloß »Bellevue«, dann gibt es keinen Zweifel: Wir leben in einem wunderbaren Land. Und Joachim Gauck muß es wissen. Hatte er früher als Stasiaktenverwalter den besten Einblick in die Düsternis einer, Gott sei’s gelobt, untergegangenen Diktatur, so hat er heute als Staatsoberhaupt den Überblick über das Wunderland Bundesrepublik Deutschland. Hier gibt es keinen Raubtierkapitalismus, schon den Begriff lehnt er ab, sondern nur »das Gute, was wir in Deutschland bereits haben«, eine »Bürgergesellschaft«, ein »deutsches Demokratiewunder«, eine »freiheitliche Demokratie«. Die Bundeskanzlerin formuliert knapp und unmißverständlich: »Deutschland ist ein Land der Freiheit und des Rechts.« In ihrer tiefempfundenen Freude über diese Errungenschaften wollen weder Gauck noch Merkel »faule Äpfel« sehen, die verdorbenen Früchte einer Politik, die gar Seltsames, Absonderliches, Groteskes hervorgebracht hat. Doch davon gibt es leider mehr als genug, wovon einige Beispiele, so willkürlich sie auch ausgewählt wurden, zeugen.

Ganz West- und Südeuropa stöhnt noch immer unter der Finanz-, Schulden- und Eurokrise. Auch in der Bundesrepublik, dem »Anker und Hort der Stabilität«, ist der Schuldenberg gewachsen, sinkt das Realeinkommen der Lohnabhängigen und der Rentner, von den »Hartz IV«-Empfängern ganz zu schweigen. Einige aber haben keinen Grund zum Stöhnen. Die Finanzhaie bringen ihr Schäfchen unter den staatlichen Rettungsschirmen ins Trockene, die Wucherbanken leihen sich Milliarden von der Zentralbank zu einem Zinssatz von unter einem Prozent und kassieren von den Bürgern und verarmten Kommunen exorbitante Zinsen. Die Armut wächst, aber der Reichtum der Millionäre mehrt sich jährlich im Durchschnitt um acht, der der Milliardäre um zehn Prozent.

Allein die Gehälter der Topmanager in den Dax-Unternehmen reichen nicht aus, um damit Milliardär zu werden. Umso tröstlicher ist es, daß führende Gewerkschaftschefs deren Bezüge verteidigen. Wie haben sich doch alle VW-Arbeiter gefreut, als der IG-Metall-Boß Berthold Huber erklärte, daß er das Jahres-Rekordgehalt ihres Chefs Martin Winterkorn in Höhe von 17,5 Millionen Euro für völlig in Ordnung halte.

Im Kampf gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich steht neuerdings die Partei an der Spitze, die gemeinsam mit den Grünen, begeistert unterstützt von der CDU/CSU und der FDP, die Agenda 2010 verbrochen hat: die SPD. Die einstige Arbeiterpartei hat ausgerechnet einen der Väter der Agenda, Peer Steinbrück, zu ihrem Kanzlerkandidaten erkoren, einen Raffke, der sich nicht scheute, von einer verarmten und überschuldeten Kommune wie Bochum für eine anderthalbstündige Politplauderei 25.000 Euro einzustreichen. Nun im Wahlkampf trägt er das Banner der sozialen Gerechtigkeit voran.

Der SPD-Spitzenkandidat weiß eben, wie man reich wird. Ganz im Gegensatz zu jenem Arbeitslosen, der partout nicht wollte, daß sein Lottogewinn von 500 Euro von seinen »Hartz IV«-Bezügen abgezogen wird. Das Landessozialgericht in Essen lehnte das mit dem Hinweis ab, daß auch kleine Lottogewinne von Sozialleistungen abzuziehen sind. Gerechtigkeit und Ordnung gehören eben zu unserer »Bürgergesellschaft«.

Und die ist zum Beispiel so reich, daß sie es sich leisten kann, in Berlin das asbestverseuchte, architektonisch mißratene und chronisch unrentable Internationale Congress Centrum (ICC) für 200 Millionen Euro zu sanieren, obwohl unklar ist, wofür es später einmal genutzt werden könnte. Die Sanierung wurde vom rosarot-schwarzen Berliner Senat ungeachtet der Berliner Schuldenlast von rund 64 Milliarden Euro beschlossen. Derselbe Senat sieht sich jedoch aus finanziellen Gründen nicht in der Lage, zügig die zahllosen maroden Schulen mit ihren kaputten Dächern, bröckelnden Fassaden und stinkenden sanitären Einrichtungen zu sanieren. Nicht einmal die etwa 25 Millionen Euro sind aufzutreiben, um die 20 geschlossenen, unbenutzbaren Schulturnhallen instand zu setzen.

Auch der Bundesfinanzminister kann dem Senat der Bundeshauptstadt nicht hilfreich zur Seite springen, muß er doch neben vielen anderen Verpflichtungen weitere 100 Millionen Euro zusammenkratzen, um die der Bau der monströsen Berliner Zentrale des Bundesnachrichtendienstes teurer wird, für den so schon zwischen 1,5 und 1,8 Milliarden Euro aufgebracht werden müssen. Woher also das Geld für die Schulen und Turnhallen nehmen?

Außerdem wird Geld auch für anderes Wichtiges benötigt – Milliarden und Abermilliarden für die Rettung der Banken, für die Bundeswehr, ihre Ausrüstung und Auslandseinsätze, für die üppigen Pensionen ehemaliger Staatsdiener und selbstverständlich auch für die »Aufarbeitung der SED-Diktatur«. Dem Amt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit ist dabei eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen. Es »verwahrt und erschließt das Material des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und stellt es zur Akteneinsicht bereit«. Damit sind 1.850 Bedienstete betraut. In der Ludwigsburger Zentrale zur Aufklärung von NS-Verbrechen ist ebenfalls eine umfangreiche Arbeit zu leisten. Sie hat zur Erfüllung ihres Auftrags, »das gesamte Material über NS-Verbrechen im In- und Ausland zu sammeln, zu sichten und auszuwerten«, 19 Mitarbeiter, einschließlich Reinigungspersonal. Der Etat der Zentrale wird geheimgehalten. Er dürfte ein wenig geringer sein als der der Gauck-Birthler-Jahn-Behörde, die Jahr für Jahr rund 100 Millionen Euro verschlingt. Aber nun haben die Ludwigsburger Beamten Ermittlungen gegen 40 noch lebende Aufseher des KZ Auschwitz aufgenommen. Mit 68 Jahren Verspätung! Erst das klärende Urteil gegen John Demjanjuk habe dafür eine juristische Grundlage geschaffen. Vorher gab es diese offensichtlich nicht.

Nicht ganz so lang, aber doch schon über Jahrzehnte streiten Regierung und Parteien über ein Verbot der NPD. Zu den Befürwortern gehört der Berliner Senat. Er unterstützt den Verbotsantrag der Länderkammer. Wenn jedoch die NPD-Anhänger in Berlin-Oberschöneweide aufmarschieren, wird ihnen von der Polizei mit brutaler Gewalt, mit Pfefferspray und Wasserwerfern gegen protestierende Antifaschisten der Weg freigemacht. An der Spitze der Neonazis marschiert der NPD-Bundesvorsitzende Holger Apfel, der sich vor Jahren schon damit brüstete, daß seine Partei »verfassungsfeindlich« sei. Trotz dieses Eingeständnisses streiten Politiker und Juristen noch immer darüber, ob und wie die »Verfassungsfeindlichkeit« der NPD zu beweisen ist. Die Argumente für oder wider ein Verbot sind unterschiedlich. Eines der treffendsten hat der FDP-Chef und Noch-Vizekanzler Rösler beigesteuert, der einem Verbotsantrag nicht zustimmen will, denn »Dummheit kann man nicht verbieten«. Wie wahr! Der Neofaschismus ist nur eine »Dummheit«. Die NSU-Mordserie hat es bewiesen.

Wie wohltuend hebt sich von diesem innenpolitischen Duckmäusertum doch die bundesdeutsche Außenpolitik ab. Abgesehen von der Teilnahme am verbrecherischen NATO-Überfall auf Jugoslawien und am Krieg in Afghanistan, von Rekordrüstungsexporten und anderen Untaten betreibt unser »Demokratiewunder«-Staat eine beispielhafte Friedenspolitik. Momentan ist sie im Vorgehen gegen Syrien zu bewundern. Gemeinsam mit Freund und Feind versucht unser friedliebendes Land, das Assad-Regime zu stürzen und den einzig säkularen Staat im arabischen Raum zu zerstören. Nur die bevorstehende Bundestagswahl erschwert eine Aggressionsteilnahme wie gegen Jugoslawien.

Schon die wenigen angeführten Beispiele zeigen, daß in unserem Vaterland »faule Äpfel« in Fülle trefflich gedeihen. Unsere Staatsoberen sind nicht so dumm, sie nicht zu sehen. Aber sie brauchen sie, da sie Teil des politischen Systems sind, das sie vertreten und verteidigen. Möglicherweise geht es ihnen wie Friedrich Schiller, der – und kein Geringerer als der Dichterfürst Goethe berichtete es – in seinem Schreibtisch stets »faule Äpfel« aufbewahrte, deren üblen Duft er zum Dichten brauchte. Gauck und Merkel sind gottlob keine Dichter, obwohl es aufschlußreich wäre, wenn sie aus eigenem Erleben ein Drama unter dem Titel »Die Räuber« verfassen würden.