Als ich Egon Bahr kennenlernte, war ich noch 30 Jahre jünger als heute und er schon weise. Ich war damals Pressesprecher der schleswig-holsteinischen SPD und ihrer Landtagsfraktion. Am Mikrofon des Landesparteitags stand Genosse Egon, seit 1972 und bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahre 1990 Spitzenkandidat des Landesverbandes bei Bundestagswahlen. Im Plenum verstummten alle Geräusche, als er mit seiner klaren Stimme schnörkellos, präzise und pragmatisch Sätze in den Raum stellte, die schnell die Sache auf den Punkt brachten. Voll zwingender Logik, aber mit einer scheinbar artistischen Leichtigkeit ziseliert.
Über was mag er geredet haben, damals? Sein Wissen und seine Erfahrung, sein geistiger Horizont waren immens. Ein Vierteljahrhundert war es her, daß der vormalige Rias-Journalist Bahr Sprecher des vom Regierenden Bürgermeister Willy Brandt geführten Westberliner Senats geworden war und damit die politische Laufbahn eingeschlagen hatte. Sie hatte ihn unter dem Außenminister Brandt in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes geführt, als Staatssekretär ins Bundeskanzleramt und nach Brandts Rücktritt unter anderem als Minister unter Kanzler Helmut Schmidt ins Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, in die Funktion des Bundesgeschäftsführers der SPD und schließlich in das eigenständige Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, dessen Direktor und Stiftungsvorstand er von 1984 bis 1994 war.
Historisch sind die Wegmarken zu nennen, auf die er schon damals in den 80ern zurückblicken konnte: Unterhändler in Moskau und Ost-Berlin und Warschau bei der Aushandlung des Moskauer Vertrags, des Warschauer Vertrags, des Transitabkommens und des Grundlagenvertrags, den Bahr für die BRD und Michael Kohl für die DDR unterzeichnete. »Wandel durch Annäherung«, »Politik der kleinen Schritte«, diese Leitlinien der Ostpolitik gehen auf Bahr zurück. Er war ihr entscheidender Vordenker und Mitgestalter. 1980 wurde Bahr zudem Mitglied der gerade gegründeten »Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit« unter dem Vorsitz des schwedischen sozialdemokratischen Politikers Olof Palme, der 1986 ermordet wurde.
Nun ist im März ein Buch erschienen, in dem Egon, das Schlitzohr, unter dem camouflösen Titel »Erinnerungen an Willy Brandt« so manches über diese Jahre und Zeit ausbreitet, das nur er aus dem Nähkästchen ziehen kann – und was Willy Brandt, wie er schreibt, einst von ihm abforderte: »Das mußt du erzählen.«
Bahr stellt trotz aller Bescheidenheit sein Licht nicht unter den Scheffel. Zu Recht, hatte er doch vermutlich mehr vertrauliche Kontakte zwischen West und Ost und mehr für die Beendigung des Kalten Krieges getan, als manch ein anderer der damals Handelnden. In der Bundesrepublik und bei westlichen Regierungen, aber auch jenseits der Elbe bis hin zur Moskwa, zumindest anfangs von Mißtrauen und Feindschaft verfolgt, war er nicht nur die »graue Eminenz«, sondern der »Architekt der Entspannungspolitik« unter dem Bauherren Willy Brandt.
Von all dem berichtet der heute 91jährige. Dies unter Einbeziehung vieler mit ihm oder in jenen Jahren agierender Personen in Ost und West – zum Beispiel: Kennedy, Nixon, Kissinger in den USA, Chruschtschow, Kossygin, Breschnew, Gromyko, Falin in der UdSSR, Gomulka, Rapacki in Polen, Ulbricht, Stoph, Honecker (»H. bewies Übersicht, Entscheidungsfähigkeit und mehr Kompetenz als mancher unserer Oberen in Bonn«), Hermann Axen, Michael Kohl in der DDR, Wehner, Schmidt, Scheel, Genscher, Helmut Kohl in der Bundesrepublik. Und stets in derselben Diktion wie damals, als ich ihn kennenlernte: voll zwingender Logik, aber mit einer scheinbar artistischen Leichtigkeit.
»Der Kampf gegen Gipfel«, schreibt Albert Camus am Ende seines von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch übersetzten »Mythos des Sisyphos«, »vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Diese ganz persönlichen Erinnerungen Egon Bahrs, dieses Zeitzeugnis zeigen: Auch er hat gegen »Gipfel« gekämpft, und auch ihn müssen wir uns heute als glücklichen Menschen vorstellen.
Egon Bahr: »Das musst du erzählen – Erinnerungen an Willy Brandt«, Propyläen, 237 Seiten, 19,99 €