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Titel192013

Brief aus Havanna (10)  (Volker Hermsdorf)

Dieser Brief – geschrieben in Havanna im August – sollte den 60. Jahrestag des Angriffs auf die Moncada-Kaserne zum Thema haben. Der Sturm einer Gruppe junger Freiheitskämpfer, angeführt von einem 26jährigen Anwalt namens Fidel Castro, auf zwei Stützpunkte der brutalen Batista-Armee im Osten der Insel am 26. Juli 1953 gilt als Startsignal für die kubanische Revolution und wird seit dem triumphalen Einmarsch der bärtigen Guerilleros am 1. Januar 1959 in Havanna als »Tag der Nationalen Rebellion« gefeiert.

Seit Tagen hatte ich in der Hauptstadt Eindrücke gesammelt, mit verschiedenen Menschen gesprochen und versucht herauszufinden, was dieser Tag 60 Jahre später für die Kubaner bedeutet. Nachdem die fliegenden Händler, die vom Geschäft mit den Touristen leben, eher zurückhaltend bis abweisend auf meine Fragen reagiert hatten, war ich erstaunt über die engagierten Antworten von Studenten und Angestellten. Für viele ist dieser Tag ein Symbol der Befreiung von Fremdherrschaft, Diktatur und Elend.

In seiner berühmten Verteidigungsrede »Die Geschichte wird mich freisprechen« klagte Fidel Castro, der als Hauptverantwortlicher für den Angriff auf die Moncada-Kaserne anschließend zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, am 16. Oktober 1953 das Regime des von den USA unterstützten Diktators Fulgencio Batista für die soziale Not an. Nicht der Sturm auf die Kasernen sei unbegreiflich, sagte Castro damals, sondern »daß Kinder ohne ärztliche Hilfe sterben, daß dreißig Prozent unserer Landbevölkerung nicht ihren Namen schreiben können und …, daß die meisten Familien auf dem Lande unter schlechteren Bedingungen leben als die Indianer, die Columbus traf, als er das … Land entdeckte ...«

Als ich den Text über die Feiern am 26. Juli, zu denen die Staats- und Regierungschefs zahlreicher Länder angereist waren, Anfang August noch einmal überarbeiten wollte, brach ich mit heftigen Brechdurchfällen zusammen. Eine Cholera-Infektion setzte meine Frau Lázara und mich für fast zwei Wochen außer Gefecht. Am 23. August bestätigte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die von den kubanischen Behörden gemeldeten 163 Cholerafälle. Unter den Erkrankten waren zwölf Besucher aus dem Ausland, davon zwei mit Wohnsitz in Deutschland. Bei rund zwölf Millionen Menschen, die sich zu diesem Zeitpunkt (einschließlich Besuchern) auf der Tropeninsel aufhielten, war die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Bakterium Vibrio cholerae anzustecken, vermutlich geringer als ein Haupttreffer im Lotto. Dennoch hatte es uns erwischt.

Trotz der unangenehmen und teils bedrohlichen Begleiterscheinungen der Erkrankung, hat sie uns auch zu authentischen Eindrücken verholfen, die wir unter normalen Umständen nie gewonnen hätten. Zunächst – das war die positive Seite – haben wir die Effizienz und Professionalität des kubanischen Gesundheitssystems direkt kennengelernt und dabei auch erfahren, mit welch geringem finanziellen Aufwand eine wirksame medizinische Betreuung möglich ist. Auf der anderen Seite erlebten wir eine die Tatsachen verfälschende Berichterstattung fast aller westlichen Konzernmedien über die Choleraerkrankungen.

Wir waren Anfang August in das Institut für Tropenmedizin Pedro Kourí (IPK) am Stadtrand von Havanna eingeliefert worden, das den größten Teil der kubanischen und ausländischen Cholerapatienten betreute. Mein Fall war der schwerste und erforderte neben der Therapie mit einem Antibiotikum und Infusionen wegen eines akuten Nierenversagens mehrere Hämodialysen. Für den einwöchigen Aufenthalt einschließlich Behandlung, Dialysen, Medikamenten und Vollverpflegung stellte mir das IPK am Ende rund 925 Euro in Rechnung. In Deutschland wäre die Krankenkasse – nach Einschätzung meiner Hausärztin – für vergleichbare Leistungen mindestens mit 20.000 Euro belastet worden. Meine Frau hatte einen leichteren Krankheitsverlauf und zahlte 360 Euro. Im Nachbarzimmer lag Raymond, ein junger Niederländer aus Amsterdam, der bereits nach fünf Tagen wieder fit war. Er staunte über seine Rechnung von nur rund 530 Euro. »In Holland können die Ärzte sich nicht so intensiv um ihre Patienten kümmern wie hier in Kuba«, sagte er, »obwohl die Kosten dort viel höher sind.«

Nach unserer Entlassung wurden wir alle Zeugen einer medialen Lügenattacke: Am 27. August veröffentlichen die rechtslastige Tageszeitung El Nuevo Herald in Miami, der staatliche US-Propagandasender Radio Martí und das mit finanzieller Unterstützung der US-Dienste NED und CIA in Madrid produzierte Internetportal Diario de Cuba zeitgleich einen Bericht über den 49jährigen Lehrer Alfredo Gómez aus New York, der sich in Havanna mit Cholera angesteckt haben will. Die Medien behaupten, daß Gómez, der vorgibt, zur gleichen Zeit wie wir im IPK behandelt worden zu sein, für sechs Tage 4.700 US-Dollar (rund 3.500 Euro) zahlen sollte und vom Krankenhauspersonal dazu »auf rüpelhafte Weise« angehalten worden sei. Obwohl die zur WHO gehörende Panamerikanische Gesundheitsorganisation (OPS) zu keiner Zeit die Choleraerkrankung eines Besuchers mit Wohnsitz in den USA gemeldet hatte, verbreiteten zahlreiche Gazetten in den USA und Spanien die erfundene Gómez-Story weiter.

Zwar gingen die deutschsprachigen Mainstream-Medien nicht ganz so weit, doch ließen auch sie sich die Möglichkeit zur Kubaschelte nicht entgehen und verkürzten die Mitteilung der OPS über Choleraerkrankungen in der Karibik in ihrem Sinn. Die WHO-Tochter hatte am 23. August an erster Stelle gemeldet, daß in Haiti seit Ende 2010 über 671.000 Menschen an Cholera erkrankt und bisher 8.231 verstorben seien. An zweiter Stelle nennt die OPS die Dominikanische Republik mit 30.681 Erkrankten und 454 Todesfällen. Als letzte Position wird Kuba genannt mit aktuell (im August 2013) 163 Erkrankten. Im Januar hatten die kubanischen Behörden 51 Fälle bestätigt, sowie 464 Erkrankungen im letzten Jahr. Glücklicherweise sind in Kuba in den letzten beiden Jahren nur drei Menschen der Cholera zum Opfer gefallen.

In nahezu allen deutschsprachigen Medien wurde der OPS-Bericht vom 23. August unter der Überschrift »Cholera-Ausbruch in Kuba« veröffentlich und dem »Castro-Regime« zugleich wahrheitswidrig vorgeworfen, die Erkrankungen zu leugnen. Die weit dramatischere Situation der Nachbarinsel Hispaniola erwähnten die Berichterstatter kaum. Die Zahlen aus Haiti und der Dominikanischen Republik taugten einfach nicht für antikommunistische Propaganda.

Auf dem Rückflug nach Deutschland lese ich in der Tageszeitung Granma, daß das kleine Entwicklungsland Kuba 4.000 Ärzte nach Brasilien schickt, um dem größten Land Südamerikas bei der medizinischen Versorgung seiner Bevölkerung in den strukturschwachen ländlichen Regionen und den von Armut geprägten Vororten der Großstädte des Landes zu helfen. Die Hilfe ist nötig, weil im reichen Brasilien für 1.000 Einwohner im Durchschnitt nur 1,8 Ärzte zur Verfügung stehen, während es die sozialistische Karibikinsel auf 6,7 Ärzte pro 1.000 Einwohner bringt und damit weltweit einen Spitzenplatz einnimmt.

In deutschen Zeitungen lese ich später während des Fluges, daß die USA und ihre Alliierten einen Angriff auf Syrien vorbereiten. Leitartikler und Kommentatoren schreiben mit einer fordernden Begeisterung über den kommenden Krieg, die mich schaudern läßt. Mit jeder Flugmeile wächst eine Gewißheit, die keinen Zweifel zuläßt: Nach sechs Monaten in einer anderen Welt befinde ich mich auf dem Weg zurück in die westliche »Wertegemeinschaft«.