»An Borkums Strand nur Deutschtum gilt, nur deutsch ist das Panier. Wir halten rein den Ehrenschild Germania für und für! Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muß hinaus, der muß hinaus!«
Das 1903 von judenfeindlichen Badegästen verfaßte, 1924 gerichtlich verbotene, dann wieder erlaubte und bis ins »Dritte Reich« auf der Kurpromenade ertönende »Borkum-Lied« spielte die Kurkapelle täglich und bewies damit die Vorreiterrolle der Nordseeinsel im »Bäder-Antisemitismus«; bereits 1897 betonte ein Inselführer den Vorzug Borkums, »judenrein« zu sein. Als besonders glühender Antisemit erwies sich der evangelische Pastor Ludwig Münchmeyer, dessen Motto, »Borkum, der Nordsee schönste Zier, bleib du von Juden rein«, ihn bis zum »Reichsredner« der NSDAP beförderte.
Da schien es ein guter Zeitpunkt zu sein, daß meine Freundin und ich auf der Insel den Urlaub verbrachten, als ein ökumenischer Arbeitskreis im Gemeindehaus Arche – gleich neben dem Neuen Leuchtturm – eine Ausstellung der Amadeu-Antonio-Stiftung eröffnete: »›Man hat sich hierzulande daran gewöhnt …‹ – Antisemitismus in Deutschland heute«. Ursula Rudnick, Professorin und Referentin für Kirche und Judentum der ev.-luth. Landeskirche Hannover, beschrieb in einem ausführlichen Vortrag grundlegende Merkmale antisemitischer Weltanschauung, unter anderem die Gleichsetzung israelischer Politik mit der des Nationalsozialismus. Der erste Diskussionsbeitrag aus dem mit etwa 100 Personen vollbesetzten Saal erstaunte dann schon: Ein älterer Inselgast aus dem Ruhrpott brachte sein völliges Unverständnis darüber zum Ausdruck, daß die BRD sich nach 1945 überhaupt mit Israel und den Juden derart intensiv auseinandergesetzt habe. Worauf sich ein ebenfalls älteres Ehepaar aus Freiburg bemüßigt fühlte, israelische Repressionen gegen die Palästinenser mit NS-Methoden gleichzusetzen. Ich, ein Braunschweiger, wies darauf hin, daß diese Beiträge sogleich wunderbare praktische Beispiele des im Vortrag erläuterten »sekundären Antisemitismus« und die Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus zwei Paar Schuhe seien. Darauf ging es munter hin und her. Den Schlußpunkt setzte meine Freundin, Hamburgerin, die auf Begrifflichkeiten hinwies, die in ihrer Kindheit völlig »normal« erschienen seien und eine zumindest sprachliche Kontinuität zum NS-Regime bewiesen, wie etwa das Verb »vergasen«. Worauf aus der Freiburger Ecke die Belehrung ertönte, die Erwähnung eines Begriffs wie »vergasen« solle auch in diesem Zusammenhang unterlassen werden, denn nur so könne Vergangenheitsbewältigung erfolgreich sein.
Man erkennt aus der Erwähnung der Herkunftsorte der Diskutanten, daß sich die Borkumer selbst eher zurückhielten. Immerhin, der Historiker Frank Bajohr erwähnt in seinem Buch »›Unser Hotel ist judenfrei‹«: »Der Antisemitismus auf Borkum war keine endogene Erscheinung, sondern ein Importphänomen, das in erster Linie von antisemitischen Gästen ausging.«
Am darauffolgenden Sonntag wurde eine Gedenktafel enthüllt, auf der sich die Kirche vom antisemitischen Hetzpastor Münchmeyer distanziert. Sie befindet sich auf dem touristisch bevölkerten Platz zwischen Neuem Leuchtturm und dem Gemeindehaus Arche. Einem geschichtsträchtigen Platz, denn – man glaubt es kaum – dort steht auch ein Teil der ehemaligen Berliner Mauer. Wie einem Vertreter des katholischen Teils der Ökumene zu entlocken war, hatte sich die Stadtverwaltung dagegen gesperrt, die Tafel an einem noch mehr frequentierten Ort zu befestigen, nämlich an der Strandpromenade.
Doch auch der politisch progressive Tourist kann nun ohne Gewissensbisse auf das vom Meeresklima begünstigte, ehemals »judenfreie« Borkum fahren, und findet bei näherem Hinsehen neben einer durchaus besuchenswerten Nordseeinsel Aspekte kritischer Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart.