Locarno im Sommer 2014. Durch die Straßen der Altstadt und am Lago Maggiore flanieren Touristenströme. Auf der Piazza Grande vor einer Riesenleinwand 6000 Stühle für das abendliche Publikum der Open-Air-Vorführungen des 67. Filmfestivals, die besondere Attraktion dieses internationalen Kinoereignisses. Bühnen für Musiker und ein Kinderkarussell komplettieren dessen Flair. Rund 300 Filme verschiedener Sektionen verteilen sich auf fünf Spielstätten, davon 17 Filme im Wettbewerb. Und alles steht im Zeichen des Leoparden, dem Wappentier des Festivals. Als Spezialpreis in Gestalt einer Skulptur wurde er auch diesmal jeweils auf der Piazza Grande an herausragende Persönlichkeiten verliehen, darunter Armin Mueller-Stahl.
Vom ebenfalls für eine Prämierung eingeladenen Roman Polanski kam allerdings eine Absage nachdem der rechtskonservative Tessiner CVP-Fraktionschef Fiorenzo Dadò den in der Schweiz lebenden achtzigjährigen Regisseur als »flüchtigen Pädophilen« betitelt hatte. Sex mit einer Dreizehnjährigen brachte Polanski 1977 in den USA ins Gefängnis, wonach er sich nach Frankreich absetzte, seither droht ihm die Auslieferung, obwohl das Opfer längst seine Entschuldigung angenommen hat. Die Absage an Locarno bezeichnete der künstlerische Direktor des Festivals Carlo Chatrian als »schwärzesten Tag« seit seiner Leitung.
Locarno und die Politik. Im seit Jahren leerstehenden Grand Hotel, dessen Park Schauplatz des ersten Festivals war, erinnert eine Tafel daran, daß der Ort im Oktober 1925 Teilnehmer einer Konferenz über ein Sicherheitssystem für Westeuropa beherbergte. Der Hauptvertrag wurde am 1. Dezember jenes Jahres in London von Gustav Stresemann und Aristide Briand unterzeichnet, deren Länder gemeinsam mit Belgien und unter Garantie Großbritanniens und Italiens sich verpflichteten, die in Versailles festgelegten deutschen Westgrenzen und die entmilitarisierte Rheinlandzone zu achten. Kaum zehn Jahre später, am 7. März 1936, erklärt Hitler den Locarno-Pakt mit dem Einmarsch seiner Truppen ins Rheinland für hinfällig.
Locarno und die Geschichte. Filmische Reflexionen über die Vergangenheit gehörten zu den interessantesten Festivalbeiträgen. Kontrastreich in der Form: Jean-Marie Straubs »Kommunisten«, adaptiert im puristischen Stil dieses Regisseurs, der einfach Protagonisten vor die Kamera stellt und Werke von Malraux bis Hölderlin zitiert, während Peter von Bagh eindrucksvoller in »Sosialismi«, beginnend mit der DDR-Hymne, filmische Zeugnisse von Siegen und Niederlagen beim Ringen um eine Verwirklichung der sozialistischen Utopie collagiert.
Wer sich in Deutschland von der medial geschürten Russophobie hatte das Gehirn vernebeln lassen, wurde in Locarno durch den Wettbewerbsbeitrag aus Moskau überrascht: »Durak«, eine scharfe Gesellschaftskritik mit staatlicher Unterstützung produziert. Ein Klempner entdeckt bei Reparaturarbeiten in einem Wohnheim Schäden, die befürchten lassen, daß das Haus am nächsten Morgen kollabiert. Nur die Evakuierung der Bewohner kann Menschenleben retten. Davon versucht der Klempner auch die Stadtverwaltung zu überzeugen, die gerade in einem Luxusrestaurant den Geburtstag der Bürgermeisterin feiert. Der brave Handwerker löst jedoch fast eine Panik aus, bei der jeder der Bürokraten den anderen beschuldigt, Dreck am Stecken zu haben und tief in Korruptionsskandale verstrickt zu sein. Die Bürgermeisterin läßt Akten verbrennen, heimlich werden zwei Männer exekutiert, die wohl zu viel wußten. Aber auch Nikitin, dem Klempner, bringt sein Engagement zuletzt nur Empörung der Hausbewohner ein, die sich in ihrer Ruhe gestört fühlen.
Regisseur Jury Bykow über seinen Helden: »Solche Leute sind heute sehr selten, wir nennen sie ›Romantiker‹, ›altruistisch‹, ›idealistisch‹ oder einfach ›Narren‹, um auszudrücken, daß sie nicht normal agieren in einer Zeit, wo Zynismus, Furcht und Gleichgültigkeit die Norm geworden sind. Solche ›Narren‹ gibt es noch in meinem Land, und das bedeutet Hoffnung auf eine geistige Gesundung der Nation.« In Locarno erfüllten sich erst einmal die Hoffnungen auf einen Erfolg im Wettbewerb: Als bester männlicher Darsteller erhielt der Protagonist von »Durak«, Artem Bystrow, einen Leoparden und der Film den Preis der ökumenischen Jury sowie den Ersten Preis der Jugendjury.
Die Ukraine konnte dagegen eher am Rande mit dem extravagantesten Film auffallen. In »Plemya« von Myroslav Slaboshpytskiy wird mehr als zwei Stunden kein einziges Wort gesprochen. Der junge gehörlose Sergej kommt in ein Internat für Taubstumme und schwingt sich dort bald zum Anführer einer Bande auf, die sich in nächtlichen Raubzügen das Geld für Schnaps besorgt. Die beiden Mädchen der Gang werden regelmäßig Fernfahrern für einen Quickie angeboten. Umso ausführlicher vergnügt sich Sergej mit der vormaligen Geliebten seines Vorgängers als Bandenchef, was aber nicht ohne Folgen bleibt und der Kamera Gelegenheit bietet, in allen Einzelheiten eine Abtreibung vorzuführen. Gegen Ende der spekulativen Story sieht man eine Menschenschlange vor der italienischen Botschaft auf ein Visum warten und Sergej in einer letzten Gewaltorgie seine Kumpane erschlagen.
Einige Kinobesucher verließen vorzeitig den Saal, während mir, kriegerischer Jubiläen eingedenk, mal der Gedanke kam, daß der Dadaismus ja seinerzeit auch eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg war. Mit realistischen Bildern aus der Ukraine wurde man im Hotel televisionär an heutige Wirklichkeit erinnert. Und die kann oft auch sprachlos machen.