71. Film-Biennale Venedig 2014 (Susanna Böhme-Kuby)
Wer verstehen will, was mit der Demokratie in Italien passiert ist, der fand vor allem im reichhaltigen Nebenprogramm der diesjährigen Biennale Aufschluß.
Erschütternd abgründig ist Sabina Guzzantis »La Trattativa« (Die Verhandlung). Guzzanti (re-)konstruiert in dem Film (überflüssig zu sagen, daß sie keinerlei öffentliche Unterstützung fand und am Geldmangel fast scheiterte) durch eine geschickte Kombination von Fakten und Fiktion jene »Verhandlungen« zwischen Staat und Mafia Anfang der 1990er Jahre in Italien, als das auf die Christdemokraten gegründete Nachkriegs-Parteiensystem (durch die »Mani pulite«-Prozesse) zusammenbrach. Nach dem historisch größten »Maxiprozeß« gegen die Mafia in Palermo (1986–92) und der folgenden Serie von Horror-Attentaten (unter anderem gegen die Richter Falcone und Borsellino, um die berühmtesten zu nennen) war der Staat zu einem erneuten Kompromiß bereit. Auf der Suche nach neuen politischen und ökonomischen Bezügen streckte die Mafia ihre Fühler nach Norden aus. Silvio Berlusconi lobt bis heute den inzwischen in letzter Instanz wegen mafiöser Umtriebe verurteilten Marcello Dell’Utri als den Erfinder seiner Forza-Italia-Partei, die 1994 aus dem Stand nicht nur alle Wahlkreise in Sizilien eroberte, sondern auch gut 20 Prozent der Wähler in ganz Italien. Die mutige Guzzanti hat den Text ihrer Kombination aus Fiktion und Dokumenten akribisch aus Tausenden von Prozeßakten rekonstruiert. Sie läßt reumütige Mafia-Kronzeugen, Richter, Anwälte, Polizeichefs und hochrangige Politiker zu Wort kommen, um aufzuzeigen, worauf sich 20 Jahre Berlusconi-Ära gründen. Und diese Ära ist keineswegs beendet, sondern deren sogenannte politische Klasse bestimmt heute über Matteo Renzi das politische Geschäft, Folge des jahrzehntelangen Abbaus der Demokratie.
Kein Film über Berlusconi also, sondern über den politischen Schoß, aus dem der kroch.
Franco Marescos »Belluscone. Una storia siciliana«, verhält sich gewissermaßen komplementär dazu. Der Regisseur läßt in seiner Doku-Groteske über einen nicht gedrehten Film schonungslos die bodenständige Szene Palermos mit Original-Interviews wichtiger Protagonisten Revue passieren – eine deprimierende Mischung aus Arroganz und Ignoranz, sozialer Alternativlosigkeit, Überlebenswillen und Hoffnung auf Rettung durch einen neuen Messias: Belluscone eben. Auch Maresco, der der Prämierung seines Films (in einer Nebenkategorie) fernblieb, läßt keinen Hoffnungsschimmer aufkommen: »Das Schlimmste steht noch aus. Berlusconi hinterläßt eine Generation, die gegen alles abgestumpft ist, die aus Leuten besteht, die sich wie Zombies verhalten.«
Das zeigt auch die mit viel Applaus bedachte Satire über den Niedergang der Ex-Kommunisten in der Partito Democratico, die sich in einer Multikulti-Markt-szenerie gegen die verordnete Schließung eines römischen Stadtteilmarktes wenden sollen: »Arance e Martello« (Hammer und Apfelsinen) von Diego Bianchi. Die groteske Handlung wird kommentiert von einem der unzähligen privaten Radiosender, dessen Punk-Sprecher am Ende des Films ein durchdringendes »Wacht auf!« ins Publikum ruft.
Felice Farinas »Patria« (Heimat) fokussiert den Blick auf die schwindende Arbeitswelt und die daraus resultierende Schwäche der Arbeiter. Farina inszeniert auf der Grundlage von Enrico Deaglios gleichnamiger Geschichte Italiens (1978–2010) eine realistisch-groteske Parabel über den verzweifelten Versuch des schon vom Tagestrott frustrierten Sizilianers Salvo, sich der Schließung seiner Fabrik in Turin zu widersetzen. Als er erfährt, daß die Belegschaft entlassen werden soll, erklimmt er einen der riesigen Fabrikschornsteine in der trügerischen Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Fernsehsender und damit der Öffentlichkeit zu erreichen. Aus den weitgehend kaputten Dialogen mit zwei Kumpeln, die zu ihm hinaufklettern, um ihn zur Raison zu bringen beziehungsweise zum Aufgeben zu bewegen, entsteht ein Abriß des sogenannten postideologischen Niedergangs der letzten dreißig Jahre. Die Dialoge sind mit Dokumentarmaterial durchsetzt, das die vielfältigen Versuche, Italien zu destabilisieren, mit dem erzählten Erlebten in Verbindung setzt, und an all jene »Staatsverbrechen« erinnert, die bis heute nicht wirklich aufgeklärt sind, deren Drahtzieher und Nutznießer im dunkeln bleiben und das Land zutiefst verunsichern und resignieren lassen. Gegen diese Tendenz stehen die hier skizzierten Filme. In der Zusammenschau stellen sie ein schonungsloses Mosaikbild Italiens dar, aber auch noch einmal die Lebendigkeit der Zivilgesellschaft unter Beweis.