erstellt mit easyCMS
Titel1915

In der DDR ging die Sonne auf  (Eckart Spoo)

Anfang der 90er Jahre gehörte ich zu einer Reisegruppe in der Karibik. Morgens beim Einsteigen in den Omnibus fiel mir auf, dass ein Bildjournalist ohne seine Kamera kam. Wieso? Wegen einiger kleiner Wolken am Himmel. Auf Bildern für Touristik-Zeitschriften oder Reisebeilagen von Zeitungen hat der Karibikhimmel wolkenlos zu sein. Umgekehrt, so klärte mich der Kollege auf, war es bis 1989/90 mit der DDR. Jahrzehntelang musste alles grau sein. Aber mit der politischen Umwälzung ging auch dort die Sonne auf und blieb.


Als ich neulich gesprächsweise erwähnte, dass ich der DDR manche gute Erinnerung bewahre, bekam ich Verärgerung zu spüren. Es gehört sich nicht, über die DDR anders als schlecht zu sprechen. 25 Jahre nach ihrem Ende wirkt dieses Tabu noch stärker als damals, vor allem unter Jüngeren, die keine eigene Erinnerung an die DDR haben. Mir wurde entgegnet, ich mit meinem Widerspruchsgeist wäre, wenn ich in der DDR gelebt hätte, bestimmt immer wieder angeeckt und früher oder später in den Knast geraten. Oder in die BRD gegangen. Kann sein. Wer weiß.


Ganz sicher aber weiß ich, warum ich mich niemals an der allgemeinen Gehässigkeit gegen die DDR beteiligt habe. Aus literarischem Interesse. Und weil die DDR so schwach war.


In Mönchengladbach, wo ich aufgewachsen bin, stand an der Regentenstraße vor dem Haus, in das später die CDU einzog, ein Schaukasten der KPD. Hier las ich wochenlang Tag für Tag in Fortsetzungen »Stine Menschenkind« von Martin Andersen-Nexö. Dieser Roman war, wie ich später erfuhr, in der DDR unter dem Titel »Ditte Menschenkind« weit verbreitet. Mein Großonkel Hermann Kiy hatte ihn aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt, worauf ich ebenso stolz war wie Tante Fanny, seine Schwester. Andere in der Familie wussten: Andersen-Nexö ist Kommunist. Ein vernichtendes Urteil. Später las ich auch »Pelle der Eroberer« und »Morton der Rote«. Jedes seiner Bücher war menschenfreundliche, aufwühlende, zu gesellschaftlichem Denken anregende Lektüre – ganz anders als das, was ich gewöhnlich in den Bücherschränken der Vierziger und Fünfziger Jahre vorfand: Rudolf G. Binding, Manfred Hausmann, Hans Carossa, viel Kitsch, Selbstmitleid und Verklärung des Krieges.


Mein Weg an dem KPD-Schaukasten vorbei – beim Lesen spähte ich immer nach links und rechts, ob ich beobachtet wurde – führte oft zu Henriette T., einer liberal denkenden Frau, nein: Dame, die ganz für die Literatur, die Musik und die bildende Kunst lebte. Ihre Bücher, die während der Nazi-Zeit in einem Bauerngarten in der Eifel vergraben gewesen waren, gehörten großenteils zu denen, die Joseph Goebbels fürs Feuer bestimmt hatte. Sie waren fleckig geworden, manche drohten auseinanderzufallen. So lernte ich mühsam viele große Romane aus den Jahrzehnten vor dem deutschen Faschismus kennen, Die meisten waren in Westdeutschland unbekannt. Mit besonderer Zuneigung ließ Henni mich Feuilletons von Alfred Polgar lesen: Von diesem Sprachkünstler könne ich lernen, worauf es in der Literatur ankomme: Knappheit des Ausdrucks im Gegensatz zum faschistischen Schwulst. Damals wusste ich noch nicht, dass Polgar in den Weimarer Jahren zu den meistgeachteten Autoren der Weltbühne gehört hatte.


Andsersen-Nexö hatte während der deutschen Besetzung Dänemarks Zuflucht im neutralen Schweden gefunden. Bei seiner Rückkehr jubelten ihm Hunderttausende Dänen zu. Aber als Dänemark auf NATO-Kurs ging, störte er und fühlte sich bald wieder bedroht. Die DDR bot ihm Zuflucht und Wirkungsmöglichkeiten – wie vielen deutschen Schriftstellern, die aus dem Exil zurückkehrten. In der BRD hatte man kein Interesse an ihnen. In der DDR hofften sie helfen zu können bei der Überwindung des Faschismus in den Köpfen, beim Aufbau einer friedlichen, sozialistischen Gesellschaft. Desgleichen erhielten geflüchtete Autoren aus Kolonien oder Militärdiktaturen Asyl in der DDR.


Als Thomas Mann, der sich 1952 wieder in der neutralen Schweiz ansiedelte, im Goethe-Jahr 1949 und im Schiller-Jahr 1955 nicht nur in Frankfurt am Main, sondern, die Sanktionsgebote der Kalten Krieger missachtend, auch in Weimar redete und deswegen in den West-Medien wütend beschimpft wurde, als Adenauer, Strauß, Erhard und der zeitweilige Außenminister von Brentano gegen Schriftsteller und Wissenschaftler pöbelten (»Pinscher«), die vor dem Streben der Bundesregierung nach Atomwaffen gewarnt hatten, als sich fast alle westdeutschen Theater am Brecht-Boykott beteiligten, als das Bundesverfassungsgericht (sein Gründungspräsident war ein strammer Nazi) nicht nur die KPD verbot, sondern auch Klaus Manns Roman »Mephisto« (über Gustaf Gründgens` Karriere im Nazi-Staat), wurde mir der Antikommunismus mit seinen schrillen Freiheitsparolen immer verdächtiger.


Bei der Frankfurter Buchmesse 1957 sprach ich, mit dem Manuskript einer Erzählung in der Tasche, den großen Verleger Ernst Rowohlt an. Der Kontakt führte dazu, dass ich nach Hamburg zog, wo der Verlag damals in der Biberstraße seinen Sitz hatte, wenige Schritte von der Universität entfernt. Rowohlts Lektor Willi Wolfradt – vor der Nazi-Diktatur hatte er in der Weltbühne geschrieben – nahm sich freundlich meiner an. Ich erhielt jeden Monat einen Stapel Manuskripte, die ich begutachten sollte. Fast alles war Schund. Immerhin zahlte der Verlag ein paar Mark für die Schmutzarbeit. Eines Tages aber gab mir Rowohlt selber ein in der DDR erschienenes Buch, zu dem ich mich äußern sollte: »Abschied« von Johannes R. Becher. Den Kultusminister der DDR kannte ich aus den westdeutschen Medien als Hassfigur. Doch schon auf der ersten Seite wurde mir klar: Das war große Literatur. Ich schrieb eine emphatische Empfehlung. Doch Rowohlt wagte es damals nicht, den Roman im Westen herauszubringen.


Bis 1961 war es für einen Westdeutschen nicht schwierig, nach Ost-Berlin zu fahren, dort ins Theater zu gehen (ich ließ möglichst keine Inszenierung des Berliner Ensembles aus) und Bücher zu kaufen: Weltliteratur zu Spottpreisen. Die DDR, viel kleiner und noch viel ärmer als die BRD, leistete sich eine Kultur, die jedem Arbeiter, jeder Bäuerin sogar regelmäßige Opernbesuche ermöglichte. Inzwischen sind fast alle Kulturhäuser geschlossen, auch die meisten Theater, Orchester, Bibliotheken, Buchhandlungen, Verlage. In Massen wurden Neuauflagen von 1933 verbrannten Büchern und neue Werke der damals in die Emigration gezwungenen Autoren auf Mülldeponien gekippt. Unvergesslich das Handeln des Katlenburger Pfarrers Weskott, der ab 1991 die Bücher rettete, indem er ihnen in einer großen Scheune auf seiner Burg Obdach gab und die Autoren zu Lesungen einlud. Dank auch an Peter Sodann, der in einem sächsischen Dorf Platz genug gefunden hat, alles zu sammeln, was in der DDR gedruckt worden ist.


Neue Literatur war in der DDR in so großen Auflagen gedruckt und verkauft worden, wie sie sich in der BRD kaum ein junger Autor erträumen konnte. Radiosendungen, Lesungen, Diskussionen – sogar in Fabriken – brachten die Schriftsteller und das Publikum in Kontakt. Und die in den Büchern formulierten Wünsche und Hoffnungen taten ihre Wirkung, zum Beispiel bei der Liberalisierung des Sexualstrafrechts. Es war die DDR, die die Strafbarkeit von Homosexualität, von Abtreibung und von Kuppelei abschaffte, lange bevor in der BRD die Verfolgung dieser »Verbrechen« endete.


Als ich diese Erinnerungen vortrug, dauerte es nicht lange, bis ein Teilnehmer unserer Runde mir den Namen Biermann entgegenschleuderte. Ach, Biermann, inzwischen beim Springer-Konzern und der CSU angelangt. Einst war er einer der jungen westdeutschen Schriftsteller gewesen, die wegen günstigerer Bedingungen von West nach Ost gingen wie Hacks und Endler und zuletzt, unmittelbar vor der Auflösung der DDR, noch Ronald M. Schernikau.


Der bloße Name Biermann dient seit Jahrzehnten ähnlich wie die Wörter »Mauer« oder »Stasi« als schlagendes, erschlagendes Argument. Jedes »Aber« soll verstummen. Aber ich merkte an, dass im Kalten Krieg weit Schlimmeres geschehen ist als die Ausbürgerung eines Eingebürgerten, dass beispielsweise schon die Verdrängung von Bloch und Zwerenz oder die Inhaftierung von Janka oder die Bespitzelung von Heym gewiss keine Zeichen von Stärke waren und dass der Staat dann in den letzten Jahren, vielleicht auch verschreckt von den Folgen der Biermann-Affäre, immer duldsamer nicht nur auf Opposition, sondern auch auf Provokation reagierte. Mir tat es leid, die DDR argumentativ immer schwächer zu erleben.


Als damaliger Vorsitzender der Deutschen Journalisten-Union, die jetzt eine ver.di-Berufsgruppe ist, war ich vom Journalistenverband der DDR eingeladen. Bei einem Besuch in der Redaktion der anspruchsvollen außenpolitischen Zeitschrift Horizont stolperte ich über einen Artikel, der ohne ein einziges Wort der Kritik über die Verhältnisse in Saudi-Arabien berichtete. Ich fragte nach und erhielt folgende Antwort: In der Epoche der friedlichen Koexistenz verzichte die DDR bewusst auf Polemik und gebe damit ein Beispiel guten Willens. Allen Staaten, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhalte, unterstelle sie Interesse an friedlichem, beiderseitig vorteilhaftem Umgang miteinander. Auch der Imperialismus sei friedensfähig. Ich widersprach mit der Vermutung, dass eine solche Informationspolitik zwangsläufig zur Verdummung der Leser führe, und der Frage, was Sozialisten denn in der weiteren Systemauseinandersetzung von einem uninformierten Volk zu erwarten hätten. Schweigen. Meine Vermutung wurde wohl als Beleidigung empfunden.


Immer wieder sehe ich eine Szene vor mir, die das Fernsehen beim Besuch Honeckers in Bonn zeigte: Zwischen Kohl und Genscher sitzend sagt der Staats- und Parteivorsitzende mit dünner Stimme das Verslein auf: »Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.« So brav. Die Gastgeber, schien mir, amüsierten sich.


Übrigens: Wolf Biermanns Entwicklung in der DDR hatte mir schon missfallen, als dieser begnadete Provokateur bei einer Ostermarsch-Veranstaltung in Frankfurt am Main sang: »Soldaten sehn sich alle gleich / lebendig und als Leich.« Das klang irgendwie nach Tucholskys »Soldaten sind Mörder.« Aber unser Ostermarsch richtete sich damals vor allem gegen den US-amerikanischen Vietnam-Krieg. Da kämpften ganz und gar Ungleiche gegeneinander. Ich verstand Biermanns Vers als Gleichsetzung des vietnamesischen Volkes und der Aggressoren, als wären Opfer und Täter gleich. Dagegen bin ich empfindlich.