Kürzlich veröffentlichte der Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, Erardo Rautenberg, in einer juristischen Fachzeitschrift eine Arbeit über den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, den »bisher bedeutendsten Generalstaatsanwalt der Bundesrepublik Deutschland«.
Fritz Bauer wurde Anfang der 1950er Jahre bekannt durch seine Anklage gegen den an der Niederschlagung des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944 maßgeblich beteiligten Generalmajor Otto Ernst Remer wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, nämlich der ermordeten Widerstandskämpfer. In dem Strafverfahren konkretisierte Bauer die sogenannte Radbruch‘sche Formel (benannt nach seinem Lehrer Gustav Radbruch, ehemals Weimarer Reichsjustizminister) hinsichtlich des Begriffs »Unrechtsstaat« für das NS-Regime. Nach Bauers juristischer Definition, war das NS-Regime ein Unrechtsstaat, weil es »Feinde« sah, die es »systematisch auszumerzen galt«. Dies – so schreibt Rautenberg – »an die Adresse derer, die die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen pflegen« (Neue Justiz, S. 369/2014 und die dort angeführte weitere Literatur).
In seinem Urteil vom 15.3.1952 folgte das Landgericht Braunschweig Bauers Definition des NS-Staates (Unrechtsstaat), und auch der Bundesgerichtshof ließ diese Definition unbeanstandet. Für Bauer war das der Grundstein für die systematische strafrechtliche Verfolgung des NS-Unrechts, die er als hessischer Generalstaatsanwalt von 1956 bis zu seinem Tod 1968 betrieb.
Radbruchs und Bauers gerichtlich und praktisch akzeptierte Definition des Unrechtsstaats trifft auf die DDR nicht zu.
Die globale Kennzeichnung der DDR als Unrechtsstaat sei falsch, schreibt auch der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde zutreffend in der Frankfurter Allgemeinen vom 12.5.2015. Zwar habe es in diesem deutschen Teilstaat »vielfaches Unrecht, vielfache Ungerechtigkeit gegeben«, doch habe die DDR in vielen Bereichen nicht darauf verzichtet, »in der Weise des Rechts zu handeln und für ihre Bürger und Bürgerinnen Gerechtigkeit anzustreben«. Die Kennzeichnung der DDR als Unrechtsstaat sei eine »Verzerrung der Wirklichkeit in politischer Absicht«.
Der juristisch relevante Kern dieser Aussagen – nur darum geht es hier – findet sich auch in höchstrichterlichen und anderen gerichtlichen Entscheidungen nach der Wiedervereinigung. In dem für das Rechtsleben der Bürger wichtigsten Rechtsgebiet, dem bürgerlichen Recht, führt der Bundesgerichtshof zum Beispiel in einem Urteil vom 15.11.1994 aus: »... die Auslegung und Anwendung des Zivilrechts der DDR hat unter Berücksichtigung der Rechtspraxis der ehemaligen DDR zu erfolgen; das für Altfälle fortwirkende Recht ist grundsätzlich so anzuwenden, wie es von den Gerichten der DDR ausgelegt worden wäre.« Diese klare Aussage (auch in weiteren BGH-Urteilen) wäre ein Unding, hielte das Gericht die DDR für einen Unrechtsstaat. Diese Rechtsprechung ist auch nicht aufgegeben oder geändert worden. Die Praxis ist ihr in vollem Umfang gefolgt.
Auch auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts, das die staatliche Verwaltungstätigkeit regelt, zeigt eine Analyse der Rechtsprechung und des Schrifttums, dass die meisten Verwaltungsakte der DDR weiterhin gültig waren beziehungsweise sind und andere Rechtsgebiete stark beeinflusst haben (Neue Justiz 2007, Seite 247). Die Fortgeltung eines von DDR-Behörden erlassenen Verwaltungsaktes hing insbesondere auch nicht davon ab, ob er mit der »Rechtsordnung der DDR (sic!) im Einklang« stand (Verwaltungsgericht Stuttgart vom 15.10.2003, Aktenzeichen 5K2107/03). Nach ständiger Rechtsprechung war für eine Weitergeltung nur maßgeblich, dass die Entscheidung nach der früheren Verwaltungspraxis der DDR als wirksam angesehen wurde, auch wenn sie etwaige Rechtsmängel enthielt (so das Bundesverwaltungsgericht laut Neue Justiz 1996, Seite 385, 1997, Seite 438).
Hervorgehoben sei, dass solche Entscheidungen der DDR-Justiz, die individuelles Unrecht, ja schwerwiegendes Unrecht oder Willkür darstellen, individuelle Entschädigungsansprüche beziehungsweise anderweite Wiedergutmachung – in einem gesetzlich geregelten Verfahren geltend gemacht – begründen und einer rechtlichen Nachprüfung unterliegen können. Diese individuellen Ansprüche sind aber – wie in jedem Staat – von der objektiven gesamtstaatlichen Rechtslage juristisch zu unterscheiden.
Schließlich: Politisch motivierte Strafverfahren und -urteile gegen ehemalige DDR-Bürger sind schon ipso iure individuell begrenzt, hier einmal abgesehen vom generellen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot u. a.
Soweit im Zeitpunkt der Herstellung der Deutschen Einheit Verwaltungsakte der DDR vorlagen, regelt der Einigungsvertrag in Artikel 19 deren Fortbestand. Selbst im Grundgesetz findet sich (also mit Verfassungsrang!) in Artikel 143 die Regelung, wonach DDR-Recht bis zum 31.12.1992 »von Bestimmungen dieses Grundgesetzes abweichen kann«. Abweichungen von anderen Grundgesetzartikeln waren sogar bis zum 31.12.1995 zulässig. Und nach Absatz 3 des Artikels 143 haben Regelungen im Einigungsvertrag auch insoweit Bestand, als »sie vorsehen, dass Eingriffe in das Eigentum auf dem Gebiet [der DDR] nicht mehr rückgängig gemacht werden«. Der Hinweis auf die Ordre public (Vorbehaltsklausel) in den Dokumenten ist international üblich.
Nach alledem stellt sich die objektive Rechtslage in der Bundesrepublik so dar, dass die DDR kein Unrechtsstaat war. Rautenberg hat also – wie viele Juristen gleicher Meinung – Recht. Denn, so stellte erst kürzlich das Bundesverfassungsgericht fest (Urteil vom 12.3.2015 im sogenannten Kopftuchstreit), das Recht fuße auf Realität und nicht auf Anschauungen, Befindlichkeiten oder Beliebigkeit!
In diese Kategorie gehört sicher auch die international beachtliche Tatsache, dass der DDR-Diplomat Peter Florin zum Präsidenten der UN-Vollsammlung gewählt wurde und dass die DDR nie von einem UN-Organ verurteilt oder auch nur kritisiert worden ist – die alte Bundesrepublik dagegen schon: wegen Kinderfeindlichkeit. Dazu O-Ton Deutscher Kinderschutzbund: »Die BRD ist ein kinderfeindliches Land.« Es ist sicherlich auch interessant, dass bei nennenswerten internationalen Rechtsstreitigkeiten, in denen Prozessparteien aus beiden deutschen Staaten vor ausländischen Gerichten stritten, die Richter regelmäßig der Rechtsmeinung und der Rechtsprechung der DDR folgten. So im Prozess wegen der in den USA aufgetauchten zwei Dürerbilder (Ehepaar Tucher) aus der Weimarer Sammlung (The New York Times: »Entdeckung des Jahrhunderts«) vor dem New Yorker Distriktsgericht (1981) und dem Bundesappellationsgericht (1982). Letzteres folgte den rechtlichen Ausführungen in dem von mir erarbeiteten Gutachten uneingeschränkt. Mit dem gleichen Ergebnis endete der weltweit beachtete – es ging um Milliardenwerte – Markenrechtsstreit der »Carl-Zeiß-Stiftung Jena« vor dem Berufungskomitee des House of Lords als letzter Instanz (1966). Ein Lordrichter schrieb: »Die westdeutschen Gerichte scheinen eine andere Meinung von den Prinzipien des Internationalen Privatrechts zu haben ..., ich möchte ihre Meinung nicht akzeptieren« (The All England Law Reports 1966, Part. 8/536 ff.). Mit dem gleichen Ergebnis entschied auch das Schweizer Bundesgericht mit Urteil vom 3. März 1965-C268/64-.
Und was die – wie zu hören war – andere Meinung zum Beispiel des juristischen Dienstes des Bundestages zum Unrechtsstaat (dies sei kein juristisch fassbarer Begriff, also wäre eine Unterlassungsklage nicht möglich) betrifft, so kann man – wenn die Meldung stimmt – nur darauf verweisen, dass noch 1968 im Bundesgesetzblatt die DDR als »sowjetisch besetzte Zone« gehandelt wurde, der 8. Mai noch sehr lange kein Befreiungstag war und im September 1990 Wehrmachtsdeserteure im bundesdeutschen Rechtsverständnis immer noch als Verräter galten.
Man kann Ernst-Wolfgang Böckenförde nur zustimmen, wenn er betont, dass die einstigen DDR-Bürger »in vielen Bereichen ein Leben in rechtlich-ethischer Normalität geführt haben, in Achtung und Befolgung bestehenden Rechts und getragen von einem darauf bezogenen Ethos«. In diesem Sinne schrieb schon 1997 der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner: »Das Zivilgesetzbuch der DDR wurde von den Bürgerinnen und Bürgern aktiv zur Gestaltung ihrer Lebensbedingungen genutzt. Es stand bei vielen zu Hause im Bücherschrank. Das BGB [Bürgerliche Gesetzbuch] mit all seinen Nebenbestimmungen bleibt dagegen ein Buch mit sieben Siegeln. Das Kleingedruckte auch in Verträgen des täglichen Lebens ist schwer durchschaubar.«
Den heutigen politisch Konservativen kann man nur raten, sich die Forderungen eines ihrer Altvorderen, des Weimarer Reichsjustizministers Eugen Schiffer (Nationalliberale Partei), zu eigen zu machen: die »Volksfremdheit des Rechts und die Rechtsfremdheit des Volkes« endlich zu überwinden und – so muss man wohl heute vor allem fordern – im vereinigten rechtsstaatlichen Deutschland sich einer ausgewogenen, ehrlichen Darstellung der Geschichte der beiden deutschen Staaten, die keine Unrechtsstaaten waren, zu befleißigen.
Ein notwendiger Nachtrag: Von Anwaltskollegen wurde ich kürzlich auf ein Interview im Focus (44/14) aufmerksam gemacht, das der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Di Fabio dem Magazin zum Thema »DDR-Unrechtsstaat« gegeben hat. Darin vertritt Di Fabio zwar auch die Meinung, dass »Unrechtsstaat« ein juristischer Begriff sei, hält diesen aber im Fall der DDR für anwendbar – mit einer nachgerade erstaunlichen Begründung: Die DDR sei letztlich ein Unrechtsstaat gewesen, weil in ihrer Verfassung nicht – wie in der Präambel zum westdeutschen Grundgesetz – die »Verantwortung vor Gott und den Menschen« enthalten sei! Dazu bemüht Di Fabio die mittelalterliche Naturrechtslehre eines Thomas von Aquino – was sogar einleuchtet, denn Naturrecht (Recht, das sich aus der menschlichen Natur ergäbe) ist nirgendwo geregelt, ist sogenanntes nichtpositives Recht, das man der jeweiligen Interessenlage vortrefflich anpassen kann. So ist das Recht auf Freiheit (wie immer man sie versteht – von Hegel bis Sartre) selbstverständlich ein Naturrecht, das Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit und ein würdiges, friedliches Leben nach obigem Verständnis hingegen nicht. Aber gerade auch das Letztere war in der DDR-Verfassung prominent geregelt (allerdings ohne Gottesbezug) – ein unverzeihlicher Fehler (staatliches Unrecht), meint Di Fabio. Da lobe ich mir doch die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: »Das Recht fußt auf Realität und nicht auf Anschauungen, Befindlichkeiten oder Beliebigkeiten« – so im bereits erwähnten Urteil vom 12.3.2015.
Die juristisch relevanten Argumente im Interview mit Di Fabio vermögen an der Beurteilung nichts zu ändern: Die DDR war kein Unrechtsstaat. So ist die objektive Rechtslage, und so sieht es übrigens auch die große Mehrheit der von Focus befragten ehemaligen DDR-Bürger (Focus 44/14, Seite 70).