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Titel1916

Und willst du nicht mein Bruder sein  (Ralph Hartmann)

Unsere Angela, unsere Kanzlerin ist ein wahres Teufelsweib. Sie schafft und schafft alles, beinahe. Und teuflisch gute Redenschreiber hat sie, die auch das Völkerrecht aus dem Effeff beherrschen. Sie sind in der Lage, das in diesen Zeiten so wichtige »Recht der freien Bündniswahl« an gebotener Stelle einzufügen. So auch in die Regierungserklärung, die ihre Chefin am Vorabend des NATO-Gipfels in Warschau abgab, in der das »Recht der freien Bündniswahl« gleich mehrfach betont wurde. Das gab ihnen auch die Möglichkeit, daran zu erinnern, wie der Pakt in den vergangenen 25 Jahren erweitert wurde: 1999 durch die Aufnahme der Tschechischen Republik, Polens und Ungarns, 2004 durch den Beitritt Bulgariens, der drei baltischen Staaten, Rumäniens, der Slowakei und Sloweniens sowie 2009 Albaniens und Kroatiens. Dieser Prozess der Einladung der Nordatlantischen Allianz sei, so die Kanzlerin, nicht beendet: »Wir schlagen die Tür nicht zu.« Ja, wenn es das »Recht der freien Bündniswahl« nicht gäbe!

 

Aber was geschah, als dieses »Recht« mit Absichtserklärungen hochrangiger Staatsdiener kollidierte, die im Zuge der Angliederung der DDR an die Bundesrepublik zusagt hatten, dass die NATO nicht nach Osten ausgeweitet werden würde? Nichts, denn die Frage erübrigte sich, weil es derartige Zusagen nie und nimmer gegeben habe. Das beteuern alle maßgeblichen NATO-Politiker, darunter der Ex-Kanzlerberater Horst Teltschik, der an der Vorbereitung des Anschlusses der DDR an die BRD und an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen beteiligt war. Und selbstverständlich wusste das auch der jüngst verstorbene Ex-Außenminister Hans-Diedrich Genscher, der noch in der Talkshow bei Maybrit Illner am 20. März 2014 betonte, dass es im Zuge der Verhandlungen zur deutschen Einheit keinerlei Zusage zum Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung gegeben habe. Auch hier nahm er es mit der Wahrheit nicht allzu genau, denn laut einem Vermerk des Auswärtigen Amtes über sein Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse vom 10. Februar 1990 hatte er beteuert: »Für uns steht fest: Die NATO wird sich nicht nach Osten ausdehnen«, um kurz danach noch einmal zu betonen: »Was im Übrigen die Nichtausdehnung der NATO anbetrifft, so gilt diese ganz generell.« Eine Woche zuvor hatte er sich mit seinem US-amerikanischem Kollegen James Baker in Washington getroffen und vor Pressevertretern erklärt: »Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten.« (https://www.youtube.com/watch?v=JXcWVTpQF3k) Genscher war bei weitem nicht der Einzige, der zusagte, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnen würde. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hatte der russische Präsident Wladimir Putin betont, dass der Prozess der NATO-Erweiterung mit der Gewährleistung der Sicherheit in Europa nichts zu tun habe, um zu fragen: »Was ist aus den Versicherungen geworden, die von westlichen Partnern nach der Auflösung des Warschauer Vertrages gegeben wurden? Wo sind diese Erklärungen heute? An diese erinnert sich niemand mehr. Ich gestatte mir aber, in diesem Raum daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat aus der Rede des NATO-Generalsekretärs Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel anführen. Er sagte damals: ›Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.‹ Wo sind diese Garantien?« Eine Antwort auf diese Frage bekam er nicht. Dabei hätte er auch noch andere hochrangige Vertreter der NATO-Staaten zitieren können, so den damaligen Außenminister der Vereinigten Staaten James Baker, der am 9. Februar 1990 im Katharinensaal des Kreml beteuert hatte: »Das Bündnis« werde »seinen Einflussbereich nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen.«

 

Fazit: Die NATO-Oberen wollten keine Ausdehnung des Friedenspaktes bis an die Grenzen Russlands. Aber was sollten sie denn tun, wenn souveräne Staaten von ihrem »Recht der freien Bündniswahl« Gebrauch machten und um Aufnahme ersuchten? Sie wurden gewissermaßen gezwungen, dem Bitten nachzugeben.

 

Was aber geschieht mit einem Land, das von diesem Recht keinen Gebrauch machen will? Es wird in die Zange genommen. Serbien, militärstrategisch ein Schlüsselland auf dem Balkan, ist dafür ein schönes Beispiel. Seit Jahren macht der Pakt Belgrad Avancen. So wurde der Friedenskämpfer und Ex-NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen nicht müde zu erklären, dass »Serbien in der Allianz willkommen« sei und für das Land »die Tür der NATO offen« stehe. Aber die Belgrader Sturköpfe wollen nicht durch diese Tür gehen. Seit Jahr und Tag verweisen sie auf die 2007 von der Skupština verabschiedete Resolution über militärische Neutralität des Landes, auf die engen freundschaftlichen Beziehungen mit Russland, die sie keinesfalls gefährden wollen. Und es gibt einen weiteren, den entscheidenden Grund für die Missachtung der sperrangelweit geöffneten Tür in das NATO-Friedensparadies. Außenminister Ivica Dačić hat offen erklärt, dass »die historischen Erfahrungen, die Bombenangriffe auf Serbien der Hauptgrund für die negative Haltung der serbischen Bürger« sind (de.sputniknews.com). Die übergroße Mehrheit der Serben will und kann nicht vergessen, dass die NATO vom 24. März bis 8. Juni 1999 Jugoslawien bombardierte und im Laufe der Aggression mehrere Tausend Frauen, Männer und Kinder ermordete, zahlreiche Industriewerke und Wohnhäuser, 62 Brücken, etwa 300 Schulen, Krankenhäuser und Staatseinrichtungen sowie 176 Kulturdenkmäler zerstörte oder schwer beschädigte. So sind sie, die Serben: uneinsichtig und nachtragend.

 

Aber was soll’s? Die Strategen in Brüssel, Washington und Berlin finden andere Wege, um ihrem Ziel näherzukommen. Sie machten einfach deutlich, dass ohne einen NATO-Beitritt eine Aufnahme in die EU, ein sehnlicher Wunsch Belgrads, schwerlich denkbar sei. Nolens volens ließ sich die serbische Regierung auf einen faulen Kompromiss ein und unterzeichnete mit der NATO einen sogenannten Individuellen Partnerschaftsaktionsplan (IPAP), den die Skupština Mitte Februar des Jahres ratifizierte. Danach erhält die NATO Nutzungsrechte an der militärischen Infrastruktur Serbiens. Das gilt für alle Armeeobjekte, für jede Kaserne auf serbischem Territorium. Mit anderen Worten: Der Kriegspakt erhält das Recht, zeitweilig in beliebigen militärischen Einrichtungen in Serbien militärische Einheiten zu stationieren, wobei deren Angehörige diplomatische Immunität genießen. Verteidiger dieses Abkommens weisen darauf hin, dass darin das »Prinzip der Gegenseitigkeit« festgeschrieben ist. Das allerdings ist ein schlagendes Argument, auch wenn es hier Besserwisser gibt; wie zum Beispiel den Militäranalytiker Miroslav Lazanski, der sich nicht vorstellen kann, »wie wir einen Verband von Militärangehörigen nach Kanada oder in die USA schicken, und sagen, dass wir ihn gern irgendwo in Kansas-City stationieren würden« (de.sputniknews.com).

 

Was jetzt in dem »Partnerschaftsaktionsplan« vereinbart wurde, entspricht in wesentlichen Teilen dem Ultimatum, das die NATO am 17. März 1999 in den Verhandlungen von Rambouillet Belgrad stellte. Die sozialistische Regierung unter Slobodan Milošević wies es zurück, und wenige Tage danach fielen die NATO-Luftgeschwader, an der Spitze bundesdeutsche Tornados, über das Balkanland her. Dieses Mal bedurfte es keiner Aggression, es genügte die Drohung, den EU-Beitritt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Die Belgrader Führung knickte ein und verkaufte einen elementaren Bestandteil der Souveränität der Srbska Republika.

 

Der erpresserische Druck der NATO erinnert ein wenig an den im Revolutionsjahr 1848 verbreiteten Spottvers: »Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.« Aber keine Bange, ein neuer NATO-Überfall auf das russlandfreundliche Serbien ist vorerst nicht vorgesehen.