Das Absperrseil, gelb-schwarz, zieht sich über die leere Bühne, trennt sie vom Parkett. Ein Mann in Uniform vom Brandschutz (Karin Neuhäuser) zieht an dem Band und spricht: zu wem? »Wir haben ein nationales Interesse, ohne Nationalisten zu sein.« Er knüpft das Seil immer kürzer, es wird noch woanders gebraucht: weil es überall brennt. Aber er lässt sich Zeit, eine Viertelstunde. Sein Monolog: ein Text-Wasserfall von Elfriede Jelinek aus ihrem Stück: »Wut«. Ich sitze im Thalia Theater in Hamburg und verstehe fast nichts von meinem Platz aus – die Pressereferentin versicherte mir, dass man von hier alles gut sehen und hören könne. Unter diesem Vorbehalt steht, was ich schreibe und wofür ich beschränkt hafte.
Der Regisseur Sebastian Nübling hat zwei Stücke kombiniert: Jelineks »Wut« und »Rage« von dem englischen Dramatiker Simon Stephens. Jelinek schrieb ihren Text nach den Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und auf den jüdischen Supermarkt in Paris. Stephens ließ sich während des Wahlkampfes zum Brexit-Referendum von einer Bilderserie (31 Fotos) von Joel Goodman aus der Silvesternacht 2016 an einer Straßenkreuzung in Manchester inspirieren. Schnappschüsse von Jugendlichen, die ihre Wut, ihren Frust, ihre Ohnmacht ausagieren und – unter Alkohol – sich enthemmt, ausgeflippt und brutal geben. Welche Textpassagen von Jelinek und welche von Stephens stammen – man ahnt es. Die englischen Kids schreien sich in Rage, pinkeln, kotzen, reden ständig von »ficken«. Sprechen von Liebe, ohne sich anzusehen. Irgendwo im Hintergrund, das Objekt ihrer Begierde. Dazu dumpfe Basstöne, die einen Rhythmus vorgeben für einen hektischen Wackeltanz – jeder für sich allein. Über allem schwebt eine Leuchtschrift: »Happy«. Später wird sie durch ein »New Year« ergänzt. Was sie alles im neuen Jahr erreichen wollen: die Welt beherrschen vor allem. Ständiger Wechsel, mal Islamismus, mal Pegida, mal AfD, mal linke Phantasien, mal erotische. Hochfliegende Pläne: Fußballstar oder Regie führen – doch sie sagen selbst, sie können es nicht, aber im nächsten Jahr … Das Mädchen mit krausem Haar und kurzem Glitzerröckchen bekennt, nun wieder nüchtern: »Ich habe die Schnauze voll davon, arm zu sein.« Und von nebenan raunt es: »Dann dürfen wir auch alles, wenn wir alle Deutsche sind.« Nicht die Kleine mit dem kurzen Röckchen. Ihr wird an den Kopf geknallt: »Wenn du nicht ›Frohes Neues Jahr‹ in unserer Sprache zu uns sagst, dann schneide ich dir dein scheißbraunes Gesicht von deinem Scheißschädel.« Zwei Polizisten in gelben Jacken jagen einen, werfen ihn zu Boden, bearbeiten ihn. Er habe was von Anschlägen gesagt, glauben sie, gehört zu haben.
Der Jelinek-Text, manchmal verspielt selbstkritisch, nimmt selbstverständlich Gott ins Visier, den Gott, den einzigen. Aber auch den Propheten – wie sah er aus? Die Namen der Opfer aus dem jüdischen Supermarkt – sie interessieren niemanden. Alles wird schnell von etwas Neuem erschlagen – auch die Worte. »Wir überlegen, ob wir Nazis sind. Das kann man ja heute schon wieder sein.« Wer sagt das? Irgendwer. Dann – die dürfen nicht fehlen – Griechen, Schulden, griechische Götter. Und immer wieder Flapsiges: »Mehr Porno – weniger Plato«. Einen Gott brauchen wir nicht – aber die anderen sagen, sie brauchen ihn. Denn: mit der Menschheit ist Schluss. Dann ist alles erlaubt? »Wir kommen wieder mit Rucksäcken, wir holen uns eure Frauen. Wir stürmen dein Haus.« Wer hier was sagt, ist nicht festzustellen, unwichtig? Ja, in dieser Inszenierung wohl – so wie sie mir auf meinem Platz zu verstehen gegeben war. Die Satzkonglomerate nehmen die Luft, wenn sie so nebeneinander gesetzt werden. Eine Stellungnahme? »Ist gar nicht mehr zu fassen, meine Wut«, stöhnt einer auf der Bühne, sehr leise.