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Titel1916

Die schwere Last der NS-Zwangsarbeit  (Manfred Laube)

Die 4000-Einwohner-Ortschaft Lehre liegt verkehrsgünstig zwischen Braunschweig und Wolfsburg. In Braunschweig wurde Adolf Hitler knapp drei Wochen vor der Wahl 1932 Regierungsrat und damit deutscher Staatsbürger. Wolfsburg wurde 1937 von den Nationalsozialisten als »Stadt des KdF-Wagens« gegründet. Das Volkswagenwerk produzierte Waffen und Fahrzeuge für den Krieg. »Wehrwirtschaftsführer« Ferdinand Porsche forderte als Arbeitskräfte Kriegsgefangene an, damit die Produktion nicht ins Stocken geriet. Das Braunschweiger Land wurde zur Rüstungsschmiede mit hoher Lagerdichte, zumal die »Hermann-Göring-Werke« in Salzgitter als industrielle Neugründung hinzukamen.

 

In der Gemeinde Lehre befand sich eine der 180 Heeresmunitionsanstalten, die es im »Reich« gab, zur Produktion wurden auch Kriegsgefangene eingesetzt. Bis heute versuchen Kommunalpolitiker hartnäckig, Leiden und Tod sowjetischer Kriegsgefangener aus der Ortsgeschichte auszublenden. So scheiterte in Lehre jahrzehntelang der Versuch, am Eingang der ehemaligen Heeresmunitionsanstalt einen Gedenkstein oder eine Erinnerungstafel für die Opfer der Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion aufzustellen. Erst am 22. August 2016 war es so weit: Eine 1,60 mal 0,90 Meter große Informationstafel konnte enthüllt werden.

 

Ein politischer Schachzug angesichts der Tatsache, dass der erstmalige Antrag für eine solche Gedenktafel im Dezember 1983 eingebracht worden war. Uwe Otte, ein in Lehre lebender Berufsschullehrer für das Fach Politik, hatte den Antrag damals als Ratsherr gestellt. 30 Jahre später – jetzt ohne Mandat – schickte er den Antrag erneut ins Rathaus. Der politisch farb- und parteilose Gemeindebürgermeister Klaus Westphal setzte den Antrag auf die Tagesordnung des nahezu bedeutungslosen Ortsrates, der höchstens dreimal im Jahr tagt.

 

Damit begann – fast erwartungsgemäß – eine neue Serie politischer Peinlichkeiten. Die Politiker fühlten sich unter Druck gesetzt und nörgelten. Otte habe überhaupt kein Antragsrecht, meinte ein FDP-Mann (Otte hatte das nie behauptet). Ein SPD-Politiker bezweifelte, dass es den Antrag von 1983 je gegeben habe. Bei den Nachforschungen im Rathaus stellte sich heraus, dass Ratsprotokolle aus den 1980er und 1990er Jahren nicht mehr vorhanden sind. Sie wurden offenbar ungeachtet des Niedersächsischen Archivgesetzes aus Platzgründen vernichtet.

 

Der Ortsrat vertagte die Angelegenheit mehrfach. Erst im Juni 2015 stimmte das Gremium mit fünf Ja-Stimmen und einer Nein-Stimme der Tafel grundsätzlich zu, allerdings ohne die Finanzierung zu klären. Vier Mitglieder des Ortsrates fehlten an diesem Tag. Finanziert aus den Ortsratsmitteln wurden wie üblich die Feste des Schützen- und des Karnevalsvereins. Der bisherige Ortsbürgermeister Bernd Krüger (SPD) ist Vorsitzender der Schützengesellschaft und im Karneval »Büttenredner Bernd«.

 

Ex-Ratsherr Otte und seine Mitstreiter hatten inzwischen einen Weg gefunden, der den unwilligen und schwerfälligen Ortsrat entlasten sollte. Sie suchten und fanden einen anderen Geldgeber: den Verein Braunschweigische Landschaft.

 

Zur Enthüllung der Tafel hatte sich der amtierende Landrat aus Helmstedt, Hans Werner Schlichting (SPD), angesagt. Der ehemalige Kämmerer der Gemeinde Lehre hatte jedoch den Verkehrsstau nicht einkalkuliert und sagte unterwegs wieder ab. Orts- und Gemeindebürgermeister drängten sich nun nach vorn. Klaus Westphal verhaspelte sich und sprach bei der Enthüllung von einer »Tafel des Vergessens«, merkte aber sofort den Fehler und korrigierte: »Tafel wider das Vergessen«.

 

Studienrat Otte behält seine grundsätzlichen Zweifel an der Lernfähigkeit der Kommunalpolitiker. Es fehle Erinnerungskultur, meint er. Als nächstes werde er sich dafür einsetzen, dass im Nachbarort Wendhausen an den ersten frei gewählten Landrat des Landkreises Braunschweig, Friedrich Brandes, erinnert wird. Der Sozialdemokrat stammt aus Wendhausen. Er wurde von den Nationalsozialisten verfolgt und verhaftet.

 

Der Ortsrat Wendhausen und der Gemeinderat Lehre zogen es laut Otte jedoch vor, eine neue Straße nach Konrad Detlev von Dehn (1688–1753) zu benennen. Dieser wurde dank eines offenbar cleveren Ehevertrages Alleinerbe des Schlosses und Gutes in Wendhausen. Er wird in Wikipedia mit Günstlings- und Misswirtschaft und Unterschlagung in Verbindung gebracht. Über deren Ausmaß kursierten zu Dehns Lebzeiten Spottverse. Der verschriene Graf wurde 1730 aus dem Staatsdienst entlassen. Schließlich musste er sogar das Land verlassen. Seine Geliebte ließ Dehn in den Kerker sperren, nachdem sie ihm zu unbequem geworden war.