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Titel1917

Dann muss der Mensch verschwinden  (Monika Köhler)

Dunkelheit. Von der Decke hängen lange Taue bis auf den Bretterboden, der nach hinten zu in Wellen ansteigt. Ein paar Gestalten sitzen herum. Einer räuspert sich, grüßt, sagt, dass er noch keine acht Jahre alt war, als er hier anfing zu arbeiten: im Schacht. Keine Requisiten auf der Bühne (Annette Kurz) – die Menschen brauchen die Dinge nicht – nur das Messer. Davon später.

 

Im Hamburger Thalia Theater »Hunger« nach Émile Zolas Romanen »Germinal« und »Die Bestie im Menschen« – eine Koproduktion mit der Ruhrtriennale. Regie und Bearbeitung: Luk Perceval. Nach »Liebe« und »Geld« (Ossietzky 21/2016) jetzt der letzte Teil der Trilogie – an einigen Tagen werden alle drei Stücke in einem neunstündigen Marathon gezeigt. Die beiden Söhne der Wäscherin Gervaise, Étienne und Jacques Lantier, die sie einst wegschickte, hier tauchen sie wieder auf. Étienne (Sebastian Rudolph) findet Arbeit in einem Kohlebergwerk Nordfrankreichs und kommt bei der Familie Maheu unter, die arm ist wie alle Bergleute hier. In die Tochter Catherine (Marie Jung) verliebt er sich. Auch sie arbeitet im Schacht. Die unmenschlichen Verhältnisse dort bringen Étienne dazu, die Arbeiter zu einem Streik zu bewegen. Ausgerechnet Catherines Liebhaber Chaval (Patrick Bartsch) entpuppt sich als Streikbrecher. Die Streikkasse ist bald aufgebraucht. Und so treibt der Hunger besonders die Frauen auf die Straße zum Protestzug vor das Haus des Grubendirektors (Stephan Bissmeier).

 

Alles wird erzählt, auch gespielt. Was stört und oft verwirrt: der andere Romanstrang aus der »Bestie« Mensch beherrscht gleichzeitig die Szene, im schnellen Wechsel und auf offener Bühne. Der zweite Sohn der Gervaise, der Lokomotivführer Jacques (Rafael Stachowiak), hat Probleme mit Menschen. Er liebt nur seine Maschine, nennt sie zärtlich »La Lison«. Die Angst vor Beziehungen zu Frauen lässt ihn zurückschrecken, weil eine unüberwindliche Lust, sie zu töten, ihn überfällt. Diese »Bestie«, die in ihm haust – Zola führt sie auf das Milieu, aber auch auf die Gene, die Vererbung zurück – Theorien, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden und dann in Euthanasie und Holocaust explodierten. Jacques‘ Mutter starb trunksüchtig im Elend. Rafael Stachowiak als Jacques quält sich mit diesem Vorbestimmtsein, zittert am ganzen Körper, zieht immer wieder das Messer, setzt es seiner – verheirateten – Geliebten Severine (Patrycia Ziolkowska) an die Gurgel und wendet es gegen sich selbst in einer wahren Tötungsorgie.

 

Einige Morde geschehen in und um die Eisenbahn, die damals für den technischen Fortschritt stand – auch eine Bestie, die alles zermalmen, niederwalzen kann. Im Kopf (auch von Zola?) das berühmte Gemälde von William Turner: »Regen, Dampf und Geschwindigkeit, die Grand Western Railway«, dieser Zug, wie ein lebendiges Wesen – bei Zola rast er führerlos, aber gefüllt mit Soldaten, »wie ein blindes, taubes Tier« in die Zukunft – das Ende. Bei Perceval sind es Jacques und Severine, verbunden durch den inneren Zwang zu töten, und Flore (Maja Schöne), die aus Eifersucht töten muss. Schließlich sich selbst – durch den Zug. Das Blut, das – glücklicherweise – nur im Kopf des Zuschauers fließt, verbindet sich mit dem Streik der Bergarbeiter, der auch blutig endet. Soldaten (nicht im Zug) werden eingesetzt, um den Aufstand niederzuschlagen. Étiennes flammende Reden, seine Utopien von einem gerechten Leben, von der Brüderlichkeit aller Menschen – sie hatten den Samen gelegt, der Spross ließ sich nicht einfach ausreißen (Germinal ist der Monat des Keimens).

 

Nach drei Wochen des Streiks, als der Hunger und die Kälte kaum noch auszuhalten waren, dachten einige ans Aufgeben. Sogar Étienne. Nicht so die Mutter Maheu (Oda Thormeyer), die immer mit dem Baby im Arm herumläuft. Soll alles vergebens gewesen sein? Sie schreit ihre Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit heraus, keine menschlichen Worte mehr, schreckliche Töne. Ihre Erregung ist ansteckend. Ein Steinhagel trifft die Tür des Direktors, der merkwürdig still dasteht. Er könne nichts tun: »Ich bin hier Angestellter wie ihr.« Dann die Drohung: »Ehe eine Woche zu Ende ist, werdet ihr vor Hunger sterben.« Die Kinder sind die ersten Opfer. Bei Zola ist es die achtjährige Alzire, eine Tochter der Maheus, die krank wird und verhungert. Und dabei lächelt. Im Stück ist Alzire (Gabriela Maria Schmeide) eine alte Frau im weißen Hemd, die immer wieder mal erscheint und sich seltsam benimmt, mit Kinderstimme nachfragt, Kommentare liefert, mit Gesten den Himmel anruft oder wie ein Rabe krächzend Unglück verheißt. Die Figur, die alles zusammenbringt. Und irre oder weise lächelt. Es könnte die verstorbene Urmutter Gervaise sein, die überall dabei ist – ungesehen. Auch der Großvater Maheu (Barbara Nüsse) humpelt als Bonnemort mit Melone über die Bühne, grausame Wahrheiten verkündend.

 

Die Seile, die von oben herunterhängen – niemand versucht, sich daran hochzuziehen. Widerstand – choreografisch? Ein wütendes Stampfen auf die Erde, wie ein Tanz, der zerstören soll – aber nichts bewirkt. Gegenseitige Ohrfeigen – niemand im Publikum lacht. Dann immer wieder dieses Im-Kreis-Laufen und nirgends ankommen. Die Grubenlampen beleuchten nur die Nähe, erlauben keine Fernsicht, die Kerzen sowieso nicht. Eine tiefe Finsternis liegt über allem. Auch die Töne des Saxophons, die aufschrien oder beruhigten – sie sind verstummt.

 

Die letzten Worte, von Bonnemort gesprochen: »Wenn Gerechtigkeit mit den Menschen unmöglich ist, dann muss der Mensch verschwinden. Es wird so viele Gemetzel geben, bis das letzte Wesen ausgerottet ist.« Am Boden liegen Menschen verstreut. Vorn steht Alzire, die Alte, hebt sanft lächelnd die Hände, ganz leise Töne von sich gebend.