Ex occidente lux – aus Luxemburg kommt das Licht der Aufklärung. Dort hat der Europäische Gerichtshof jetzt aufgeräumt mit der jahrzehntelang gehegten Fiktion, dass die Kirchen in Deutschland einen grundgesetzlich verbrieften Anspruch auf einen Sonderweg im Arbeitsrecht hätten. Luxemburg hat damit auch dem Bundesverfassungsgericht eine Lektion erteilt. Die Karlsruher Richter hatten 2014 noch geurteilt, dem Chefarzt eines Krankenhauses in kirchlicher Trägerschaft sei rechtmäßig gekündigt worden, weil er nach der Ehescheidung standesamtlich erneut geheiratet hatte. Der EuGH entschied nun anders und gab dem klageführenden Chefarzt Recht: Die Kündigung verstieß möglicherweise gegen EU-Recht. Über den Fall hat nun erneut das Bundesarbeitsgericht zu befinden. Es wird nach dem Spruch aus Luxemburg an seiner bisher meist kirchentreuen Haltung zum kirchlichen Arbeitsrecht nicht festhalten können.
Der EuGH sieht durch die Kündigung wegen Verstoßes gegen die rigorose katholische Ehemoral das Diskriminierungsverbot möglicherweise verletzt. Zwar dürften Kirchen von ihren Mitarbeitern eine besondere Loyalität fordern, aber nur insoweit, als diese für die jeweilige Tätigkeit unerlässlich sei, also im Kernbereich von Verkündigung und Seelsorge, aber nicht im Krankenhausdienst. Karlsruhe hatte sein Urteil hingegen auf das in Artikel 140 des Grundgesetzes geregelte Selbstverwaltungsrecht der Kirchen gegründet und zusätzlich das Grundrecht auf Freiheit der Religionsausübung herangezogen. Die Argumentationsebenen differieren, aber die Grundfrage bleibt die gleiche: Inwieweit können religiöse Bindungen die Geltung staatlicher Gesetze, möglicherweise sogar von Grundrechten einschränken?
Man darf dabei die wichtige Erkenntnis nicht aus den Augen verlieren, dass die demokratische Staatsordnung auf Prämissen beruht, die sie nicht selber begründen kann. Dies kann jedoch nur für Grundprinzipien wie Rechtsgleichheit, Gewissensfreiheit und Unantastbarkeit der Menschenwürde gelten und nicht für Details der religiös geprägten Lebenspraxis, die oft noch in der magischen Vorstellungsgewalt der Frühgeschichte wurzeln. Die nicht aus der Bibel herleitbare katholische Lehre, dass die Ehe ein Sakrament sei und darum nur auflösbar durch den Tod, so dass die Wiederverheiratung eine schlimmere Sünde ist als das Konkubinat, lässt sich im 21. Jahrhundert nicht mehr plausibel vertreten. Eine Kirche, die doch einen Gott der Liebe und Barmherzigkeit predigt, verliert ihre Glaubwürdigkeit nicht durch die Duldung von Verstößen gegen ihr Ehedogma, sondern durch Festhalten an diesem Dogma.
Für die rechtliche Beurteilung einer Kündigung müsste dies keine Rolle spielen, wenn nicht über die sogenannte kirchliche Selbstverwaltung bis in die höchsten Ränge unserer Gerichtsbarkeit eine seltsame Begriffsverwirrung herrschte. Denn das Grundgesetz hat diese Selbstverwaltung einer klaren Begrenzung unterworfen. In Artikel 140 GG, einer wortwörtlichen Übernahme aus der Weimarer Verfassung, heißt es: »Jede Religionsgesellschaft [also nicht nur christliche Kirchen] ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.« Was eine eigene Angelegenheit von Kirchen ist, mag gelegentlich zweifelhaft scheinen; das Betreiben eines Krankenhauses, das für alle dazusein hat und in die Netzwerke der Sozialpolitik eingebunden ist, gehört jedenfalls eindeutig nicht dazu. Und zu den »Schranken des für alle geltenden Gesetzes«, die den Wirkungsbereich der kirchlichen Selbstverwaltung eingrenzen, gehören selbstverständlich auch die Regularien des Arbeitsrechts. Und erst recht Grundrechte wie das auf gewerkschaftlichen Zusammenschluss und Streik, um das es bei Arbeitsgerichtsprozessen gegen die Kirchen vor allem gegangen ist. Das Bundearbeitsgericht hat immer wieder von einem Abwägen zwischen konfligierenden Grundrechten gesprochen, aber das ist Unsinn. Artikel 140 GG garantiert kein Grundrecht, sondern lediglich eine Schutzbestimmung gegen staatliche Eingriffe in kirchliche Interna.
Kurioserweise hat das Bundesverfassungsgericht auch das Grundrecht auf Freiheit der Religionsausübung bemüht, um die Kündigung des Chefarztes zu legitimieren. Doch das Betreiben eines Krankenhauses ist auch dann keine Religionsausübung, wenn die Motivation dazu überwiegend oder ganz aus religiösen Impulsen kommt. Es ist soziales Handeln in der Gesellschaft nach den Regeln und Rechtsnormen dieser Gesellschaft, eben »innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes«. Glaubensvorstellungen spielen nur für die persönliche Selbsteinschätzung eine Rolle, aber nicht für die rechtliche Bewertung.
Die EU-rechtliche Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs ist ein Schritt zur Befreiung des Rechts aus den Fesseln lebensfremd gewordener religiöser Traditionen. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass die Freiheit der Religionsausübung für alle Religionen gilt und auch das Selbstverwaltungsrecht nach Artikel 140 GG für »Religionsgesellschaften« generell, sobald sie sich rechtswirksam organisiert haben. Wie reagieren wir, wenn islamische Verbände unter Berufung auf die Religionsfreiheit für sich Sonderrechte nach den Vorschriften der Scharia fordern?
Die Deutsche Bischofskonferenz, so ist zu hören, will nach Abschluss des Verfahrens, also nach der erneuten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, eine verfassungsrechtliche Überprüfung vornehmen und schließt eine abermalige Anrufung Karlsruhes nicht aus. Das klingt nicht sehr konstruktiv für eine Kirche, die doch immerhin ihre Grundordnung kirchlicher Arbeitsverhältnisse bereits 2015 so weit abgemildert hat, dass eine Chefarztkündigung wie im jetzt verhandelten Fall etwas unwahrscheinlicher, wenn auch nicht unmöglich wurde. Die Säkularisierung des Rechts ist ein langwieriger Prozess. Es dürfte noch ein weiter Weg sein, bis beispielsweise die religiös motivierte Genitalverstümmelung wehrloser männlicher Säuglinge und Kinder auch rechtlich als das gesehen werden kann, was sie faktisch ist: Körperverletzung.