Waren Helga M. Novak und Wolf Biermann DDR-Dichter? Diese Frage stellt sich der Kulturwissenschaftler und Germanist Jens Bisky im Vorwort des Bandes »Auslaufmodell ›DDR-Literatur‹. Essays und Dokumente«, herausgegeben von Roland Berbig, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das klingt provokant, denn Bisky weiß: DDR-Literatur wird nicht bloß als regionale Zugehörigkeit gesehen, sondern gewöhnlich mit »programmatischen Ansprüchen« verbunden. Will heute noch jemand das Etikett »DDR-Schriftsteller« tragen, wo doch Stefan Heym der DDR nach dem Zusammenschluss weissagte, wie Roland Berbig erinnert, zu einer Fußnote deutscher beziehungsweise europäischer Geschichte zu verkümmern?
Eine eindeutige Antwort auf diese Frage können weder der Professor noch seine 14 Studenten geben, mit denen er das Projekt der Humboldt-Universität verwirklicht hat – und auch nicht die 32 »DDR-Schriftsteller« der Jahrgänge 1926 (Hermann Kant, Günter de Bruyn) bis 1963 (Lutz Seiler), die sich in einer Selbsteinschätzung dazu geäußert haben. Nach einer archivalischen und editorischen Erschließung des literarischen Erbes der DDR »auf neue Weise«, so Bisky, habe man jedoch mehr gesehen, »als man hätte erwarten können […], wenn man nach der Wirklichkeit neben und jenseits der politischen Strukturen fragt«. Der Band will »die Verhältnisse zurechtrücken«.
Dem Herausgeber geht es darum, mit Hilfe von Archivalien »dem unübersehbaren Werteverfall« der in der DDR entstandenen Literatur« gegenzusteuern. Dazu hat er in seinem Essay »DDR-Literatur – archiviert« 17 Thesen zum Teil über heikle Themen aufgestellt, die helfen sollen, »den Schleier zu lüften, möglicherweise sogar gänzlich wegzuziehen«, der über dem Begriff DDR-Literatur liegt. Die Thesen hat er mittels Zitaten aus Briefen erläutert, die von Schriftstellern an Freunde, Kollegen und Verlage gerichtet waren. Bekannte Namen sind zu finden, zum Beispiel Franz Fühmann, Fred und Maxie Wander, Heinz Czechowski, Joachim Seyppel, Helga M. Novak, Günter Kunert, Thomas Brasch und Uwe Johnson. In These 8 wird die Reisefreiheit angesprochen, die etwa Christa Wolf, Franz Fühmann, Volker Braun und Heiner Müller auch noch nach der Unterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns genießen durften. Die These kulminiert – auch angesichts des Pendelns zwischen Ost und West – in der Aussage: DDR-Schriftsteller hat es »in einer sinnfälligen, streng bestimmbaren Form nie gegeben«. Bei vielen fehlt die Zugehörigkeit, sie bezeichnen sich als Emigranten, Ausländer (Fred und Maxie Wander), als »vorübergehend« (Helga M. Novak), »ohne Wurzeln« (Frank-Wolf Matties), als »nicht Eingesessene« (Franz Fühmann). In der These 11 wird am Beispiel Fühmann und Wieland Förster eine »künstlerische und poetologische« Brücke zur bildenden Kunst geschlagen, und These 12 beschäftigt sich mit dem Beziehungsgeflecht zwischen einer Elite, »die im offiziellen politischen Kultur- und Bildungsapparat ebenso verankert [war] wie in inoffiziellen Kontaktnetzen«. Der Autor weist darauf hin, dass das Kapitel noch nicht aufgearbeitet sei. Als »heikel« bezeichnet er selbst die These 13 zum Status des Jüdischen in der DDR-Literatur.
Die folgenden Essays der Studenten untermauern im Wesentlichen die Aussagen von Bisky und Berbig. Ein sehr interessantes, weil eine andere Sicht fernab der politischen Verklärung darstellendes Essay hat der Professor selbst beigesteuert, und zwar über die Beziehung zwischen Helga M. Novak und Robert Havemann, bei denen »das Politische das Ferment ihrer Liebe ist«. Dabei urteilt er unverblümt: »Mit Begriffen wie ›Opposition‹ oder ›Dissidententum‹ lassen die beiden sich nicht fassen. Ihnen haftet Asoziales an, Anarchistisches.« Seine kritische Sicht trifft besonders Havemann, indem er Novaks Beurteilung von dessen Zukunftsvision als dilettantisch bekräftigt.
»Die Dokumente und Dossiers« nehmen ein gutes Drittel des Buches ein und sind als »Archivfokus« gegliedert in Zeitungsausschnitte, Verlagsinterna, Auseinandersetzungen, Persönliches und Nachlassporträts. Ihnen schließen sich die Rundbriefe mit drei Fragen zu der eigenen Einordnung der Autoren an. Auf einhundert Briefe kamen 50 Antworten. Die Bilanz ist vielgestaltig und meist mit »leiser Nachdenklichkeit« verbunden. Elke Erb und Friedrich Dieckmann bringen das Ganze auf den Punkt mit ihrer Gegenfrage zu einer »BRD-Literatur«.
Die Archivarbeit in dieser Art zur DDR-Literatur befindet sich in den Anfängen und kann so nur einen Bruchteil der im Lexikon der DDR-Literatur erfassten Schriftsteller betreffen. Viele davon haben sich völlig den Regeln unterworfen, die staatlicherseits aufgestellt worden waren, andere haben über politisch nicht relevante Themen geschrieben. Die vorliegende erste Auswahl gibt meines Erachtens bereits einen gültigen Überblick zur Identifikation mit der DDR-Literatur, denn wen sollte man zuerst anhören, wenn nicht diejenigen, die im kulturpolitische Fokus standen, weil sie sich zu diesem Staat kritisch geäußert haben. Und nur um solche Schriftsteller handelt es sich in dem Buch.
Roland Berbig (Hg.): »Auslaufmodell ›DDR-Literatur‹. Essays und Dokumente«. Ch. Links Verlag, 516 Seiten, 50 €