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Titel1918

Demütig auf Island  (Frank Schumann)

Oh, der Hausherr ist da. In der Einfahrt steht ein Jaguar. Schmuckes Teil. Weiß wie das Haus dahinter. Schlicht, zweigeschossig, fast Bauhausstil. Natürlich ist er nicht da: Halldór Laxness liegt seit 1998 unweit von hier auf dem Friedhof von Mosfellsbær. Neben der Kirche, der Mosfellskirkja, die nicht nur deshalb im Vorüberfahren auffällt, weil sie auf einer Anhöhe neben der Straße nach Reykjavik thront, sondern vor allem wegen ihrer Architektur. Ein Boot, das in See zu stechen scheint, die Spitze mit den beiden Glocken tapfer gereckt, eine Diagonale von links unten nach rechts oben teilt die Wand des Kirchenschiffs und gewährt Ein- und Ausblick. So ein ungewöhnliches Kirchenfenster sah ich noch nie. Rings um das Haus, in sattgrünes Gras gebettet, die Gräber, erkennbar nur an schlichten Steinen mit Namen. Ein grob behauener Findling trägt die des Literaturnobelpreisträgers und seiner Frau Auður Sveinsdóttir, die 2012 starb. Der Stein sticht weder hervor, noch ragt er heraus. Primus inter pares. Nur eine Schreibfeder verweist auf die Profession desjenigen, der hier liegt.

 

Das Haus, in welchem beide seit 1945 lebten, befindet sich in jenem Zustand, in dem es zu ihren Lebzeiten war. Alles ist noch an seinem Platz, der Oldtimer davor gehört dazu. In einem Anbau sitzt eine hübsche Studentin, sie verkauft die Tickets. Dann treten wir an die Hauspforte und drücken wie normale Besucher die Klingel. Ein freundlicher junger Mann öffnet, reicht uns im Flur zwei Kleiderbügel. Wir ziehen auf sein Geheiß Gamaschen über die Straßenschuhe und klemmen uns die Kopfhörer des Audioguides auf die Ohren. Und sind plötzlich mit uns allein. Niemand da. Kein Aufpasser, kein Besucher. Wir gehen von Raum zu Raum, vernehmen, woher welches Möbelstück stammt, der Flügel mit den aufgeschlagenen Noten kam mit dem Schiff aus Kopenhagen. Und wir erfahren, wer alles zu den Privatkonzerten hier Platz nahm. Unterm Fenster steht eine lange gepolsterte Bank mit vielen Kissen. Da saßen auch Diplomaten und Politiker, denn Laxness war nicht nur eine moralische Institution, sondern auch eine Art Außenministerium. Seine Frau gab vernehmlich zu Protokoll, dass sie allein deshalb dieses Haus liebte, weil sie hier – anders als in der Stadtwohnung – ein eigenes Schlafzimmer besaß, in das sie sich zurückziehen konnte, wenn die Gespräche mit den auswärtigen Gästen nicht enden wollten. Wir hören die Namen der Urheber der vielen Kunstwerke und wie sie ins Haus kamen: Gemälde, Plastiken, Schatullen und Schalen, der geschmiedete schlichte Kronleuchter ... Laxness‘ Lieblingssessel sei jener ungewöhnliche Lederstuhl neben der Tür gewesen, in dem nur er sitzen durfte. Ich frage mich, wie sich der Mann im Alter aus dem unbequemen Gestühl erhob. Das Gesäß schwebte darin vielleicht zwanzig Zentimeter über dem Parkett.

 

Vom holzgetäfelten Wohnzimmer mit der Balkendecke und dem Kamin, dessen Feuer täglich gelodert haben soll, geht es hinüber ins Esszimmer, eine Durchreiche verbindet es mit der Küche daneben. Die Wände sind dunkelgrün wie die Insel, auch hier viele Bilder, abstrakte Farbkompositionen wie die meisten im Haus. Nur im kleinen Foyer hängen figürliche Darstellungen, darunter eine biblische Szene. Das Gemälde war von einer Gemeinde als Altarbild bestellt und dann als zu düster und die darauf dargestellte Person als zu hässlich empfunden worden. Laxness kaufte dem namhaften Künstler das Bild ab. Eine weise Entscheidung.

 

Die Speisetafel ist ungewöhnlich lang, erheblich zu lang für ein einzelnes Ehepaar. Hier wurden offenkundig die Gespräche fortgesetzt, das Verbindende eines Abendmahls in den Dienst des Dialogs gestellt. Der Marxist Laxness war Pazifist und trug seit 1953 den Weltfriedenspreis. Unmittelbar nach Hiroshima und Nagasaki hatte er den Roman »Atomstation« zu schreiben begonnen, in welchem er das Ansinnen der USA attackierte, im beginnenden Kalten Krieg auf Island einen Stützpunkt zu errichten. Er sah darin nicht nur eine Einschränkung der Souveränität seines Landes, sondern auch, dass es dadurch in einem Atomkrieg zu einem potentiellen Angriffsziel werden würde. Die Regierung stimmte dem über 99 Jahre laufenden Vertrag dennoch zu, was Laxness nicht minder scharf kritisierte.

 

Es störte offenbar niemanden, dass der Mann, der an der Stirnseite der Tafel saß, eine dezidierte politische Überzeugung hatte. Nur in einigen deutschen Reiseführern wird darauf mit dem vernehmlichen Aufatmen verwiesen, dass sich Laxness nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 vom Kommunismus losgesagt habe. Alle danach entstandenen Werke seien doch eher apolitisch und weniger sozialkritisch gewesen. Allerdings heißt es auf Wikipedia: »Aufgrund seiner lange Zeit kommunismusfreundlichen Haltung wurde Laxness in der DDR stärker beachtet als in der Bundesrepublik Deutschland. Seine Werke der Nachkriegszeit wurden zuerst in der DDR übersetzt.« Erst in den 1990er Jahren habe es »eine gesamtdeutsche Renaissance« der Werke von Laxness gegeben.

 

Die DDR interessierte sich für Laxness nicht primär wegen seiner »kommunismusfreundlichen Haltung«, sondern erkannte frühzeitig seine literarische Bedeutung und war offen für Weltliteratur. Wenn Laxness anschaulich über einen isländischen Bauern schrieb, der tagtäglich um seine Existenz und die seiner Familie rang, so stand dies als Gleichnis. Auf gleiche Weise kämpften alle Verdammten dieser Erde um ihr Überleben – gegen die Naturgewalten und gegen bestehende politische Verhältnisse. Das macht eben große Literatur aus: Auch wenn sich ein Schicksal im letzten Winkel der Welt zuträgt, versteht man es überall.

 

Der Isländer Laxness wurde in 43 Sprachen übersetzt.

 

Wir steigen hinauf ins Obergeschoss mit den beiden Schlafräumen, der Bibliothek und dem Arbeitszimmer. Viele Bücher, viel Kunst auch hier, nicht wenige Mitbringsel von Reisen und Geschenke, grün die Decke und auf der Fensterbank Stapel von Papieren.

 

Auf dem kleinen Schreibtisch steht die Remington, auf der seine Frau die handschriftlichen Manuskripte tippte und als Erste kritisierte. Laxness schrieb seine Texte mit Bleistift und nutzte diesen bis zum letzten Zentimeter, wie einige Stummel anschaulich bezeugen.

 

Aus den beiden Fenstern im Eckzimmer nebenan, wo sein Bett steht, geht der Blick nach Westen und nach Norden, auf dem Fensterbrett wartet ein Feldstecher auf Benutzung. Aber Achtung: nicht von den Besuchern. Man sieht im weiten Tal die Straße nach Reykjavik und die Kirche auf dem Hügel in der Ferne, die verstreut liegenden Anwesen, darunter das seiner Großeltern, auf dem er seine Kindheit verbrachte. Laxnes heißt der Hof, mit einem s. Dort erfuhr er nicht nur bleibende Prägungen, sondern er nahm den Namen mit und hängte ein weiteres s an. Zur Welt war er nämlich als Halldór Guðjónsson gekommen. Vor seinem nicht mehr existenten Geburtshaus in der Laugavegi 32 in Reykjavik, zwischen Souvenirläden und Markenshops, ist in der Flaniermeile eine Platte eingelassen, die auf das Ereignis am 23. April 1902 verweist.

 

In seinen 68 produktiven Jahren schrieb Laxness 62 Werke, vermutlich meist unter Beihilfe von Zigarren, deren Geruch auch zwanzig Jahre nach seinem Ableben noch in den Räumen wohnt. Als wäre Laxness noch da.

 

Kommt man als Gast auf das Eiland, braucht man ein Kopfkissen. Die unzähligen Kreuzfahrtschiffe, die mit ihren schädlichen Schweröl-Abgasen die Umwelt verpesten, bringen die Betten mit. Die Touristen, denen wir uns für zwei Wochen zugesellten, steigen in Hotels, Hostels oder Guest Houses ab. Die einschlägigen Erfahrungen, die man etwa auf dem Kontinent machte, gelten hier nicht. Erstens sind die Hotelzimmer auf Island selten größer als eine Besenkammer, zweitens befindet sich deren Ausstattung in einem reziproken Verhältnis zum Preis. Also je bescheidener, desto teurer. Fernseher sucht man in der Regel vergeblich: Wozu auch, wenn man die Landessprache nicht beherrscht? Aber: WLAN geht immer. Diesbezüglich ist man erkennbar weiter als etwa Deutschland.

 

Eine andere, keineswegs preiswertere Option stellen die Guest Houses dar, die vielleicht auf Mallorca oder Teneriffa undenkbar wären. An dem daheim via Internet gebuchten Quartier findet der Reisende an der offenen Tür (oder dahinter) einen Zettel mit seinem Vornamen und einen Zimmerschlüssel. Bad, Küche und WC teilt man sich mit anderen Reisenden (sofern zugegen), am Morgen lässt man den Schlüssel einfach in der Zimmertür stecken und trollt sich. Ohne jemanden gesehen zu haben. Und sucht sich was zu beißen, sofern man nicht selbst am Vortag vorgesorgt hat. Lediglich die größeren Einrichtungen bieten nicht nur bed, sondern auch breakfast. Inselweit scheint man sich auf einen Einheitspreis verabredet zu haben: der beträgt pro Person 15 Euro. Sucht man sich ein Angebot mit Frühstück, wird’s teurer, zahlt man mit Banknoten, wird man eher kritisch beäugt. In Island ist nicht Bares Wahres, sondern die Plastikkarte. Selbst die Flasche Bier, die man nur in speziellen Läden – Vínbúðin geheißen – kaufen kann, wird auf diese Weise bezahlt.

 

Die hiesige Tourismusindustrie sucht sich ihr Publikum aus. In anderen Gegenden ist man froh über jeden Gast, wenn er denn in Massen kommt. Nicht so auf Island. Die Selektion erfolgt erkennbar über den Geldbeutel. Bildungsbürger aus Old Europe, Senioren aus den USA, Japaner und neureiche Chinesen und Russen können sich eine Islandreise leisten, der Straßenkehrer aus Strasbourg oder der kleine Gemüsehändler aus Gera eher nicht. Fürs halbe Geld gibt es drei Wochen all inclusive in Antalya. Nicht wenige Reiseveranstalter bieten inzwischen Pauschalreisen nach Island nicht mehr an, weil diese, wie sie sagen, wegen der steigenden Kosten nicht wirtschaftlich seien. Die wenigen Backpacker, die wir trafen, ließen sich an zwei Händen abzählen. Doch da es trotz aller Wirtschaftskrisen immer mehr vermögende Menschen auf der Erde zu geben scheint, die es nach Island zieht, hat man dort ein Problem. Übers Jahr verteilt kommen mittlerweile fast sechs Mal so viele Besucher, wie das Land Einwohner zählt. Die jährlichen Steigerungsraten liegen bei vierzig Prozent, 2017 registrierte man mehr als zwei Millionen. In steter Regelmäßigkeit schlägt darum die Tourismusministerin Alarm und sieht das Land am Limit. Sie hofft, mit den Preisen den Tourismusboom zu bremsen. Das scheint aber nicht zu funktionieren. Selbst im Winter nicht, wenn es richtig ungemütlich auf der Insel ist. Dann kommen besonders viele Touristen aus Fernost, weil dort der Aberglaube herrscht, unterm Nordlicht gezeugten Kindern sei das Glück ein Leben lang treu. Und welche Eltern wollen für ihren Nachwuchs nicht das Beste?