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Titel1918

Georgia On My Mind  (Klaus Nilius)

Es gibt in Georgien eine Legende, nach der das Land folgendermaßen entstand: Gott beschloss eines schönen Tages, die von ihm geschaffene Erdkugel in Länder aufzuteilen. Er veranstaltete einen Jahrmarkt, auf dem sich die Menschen überbieten konnten, um das beste Fleckchen der Erde abzukriegen. Er selbst behielt sich das schönste Fleckchen zurück. Dort wollte er sich nach getaner Arbeit ausruhen. Nach seiner Ankunft entdeckte er unter einem schattigen Baum einen schnarchenden Mann mit gemütlicher Wampe, der am Bieten nicht teilgenommen hatte. Nach dem Grund seiner Abwesenheit befragt, erhielt er von dem Mann die Antwort, er würde sich mit dem begnügen, was Gott für ihn übrighabe. Überrascht und von Güte übermannt, überließ ihm Gott sein eigenes Urlaubsparadies: Georgien.

 

Nino Haratischwili erzählt diese Legende ausführlich am Anfang ihrer 2014 erschienenen Mammutsaga (1300 Seiten) »Das achte Leben«. Die Autorin wurde 1983 in der georgischen Hauptstadt Tiflis/Tbilissi geboren und lebt seit 15 Jahren mit ihrer Familie in Hamburg. Ihr Buch wurde mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet.

 

Georgien. »Ein kleines Land … Es ist auch schön … Mit Bergen und einer steinigen Küste am Schwarzen Meer. Die Küste ist zwar im Laufe des letzten Jahrhunderts um einiges geschrumpft, dank der großen Zahl an Bürgerkriegen, dämlichen politischen Entscheidungen, hasserfüllten Konflikten, aber ein schöner Teil davon ist noch da« (aus: »Das achte Leben«).

 

Georgien. In diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Unter dem Motto »Georgia – Made by Characters« werden Literatur und Kultur präsentiert. Mehr als 60 Verlage und über 70 georgische Autorinnen und Autoren werden erwartet, mit fast 100 Werken, zum großen Teil erstmals ins Deutsche übersetzt, von Kurzgeschichten, Romanen und Epen über Gedichtsammlungen, Krimis und Kinderbücher bis hin zu Sachbüchern und Essaysammlungen. Das georgische Alphabet – seit 2016 Teil des Weltkulturerbes der UNESCO – prägt mit seinen 33 geschwungenen Buchstaben den georgischen Pavillon.

 

Die beiden Hauptredner des Ehrengastes zur Eröffnung der Buchmesse sind Aka Morchiladze, einer der berühmtesten Autoren der modernen georgischen Literatur, und als renommierte deutsche Autorin georgischer Herkunft Nino Haratischwili.

 

Mit Georgien präsentiert sich »eine jahrtausendealte Kulturnation«, doziert die Messeleitung. Ich muss gestehen, dass ich nicht viel über das Land und seine Menschen und seine Kultur weiß. Einer Einladung nach Tbilissi in früherer Zeit war ich aus heute nicht mehr erinnerlichen Gründen nicht gefolgt. Ich mache mich daher gerne auf zu einer kleinen literarischen und kulturellen Entdeckungsreise.

 

Dabei beschränke ich mich auf die beiden in diesem Jahr erstmals ins Deutsche übertragenen Romane des Festredners Aka Morchiladze und den ebenfalls erstmals auf Deutsch übersetzten Roman von Tschabua Amiredschibi über den georgischen Nationalhelden Data Tutaschchia. Die Romane berichten von unterschiedlichen Zeiten und wecken, ebenso wie Haratischwili mit ihrem eingangs erwähnten Werk, das Interesse an Geschichte und Kultur des Landes.

 

1885, als Data Tutaschchia, die Titelfigur des Romans von Amiredschibi (1921–2013), in den Untergrund gehen muss und zum Abragen wird, was so viel wie Freiheitskämpfer oder Gesetzloser bedeutet, ist Georgien Teil des russischen Zarenreiches. Doch weniger die politische Repression treibt den edlen Räuber um als Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Käuflichkeit der Menschen im Zarensystem.

 

Der Roman über den »georgischen Robin Hood« erschien von 1971 bis 1975 in der Zeitschrift Ziskari, dank der Fürsprache des damaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Georgiens, dem späteren sowjetischen Außenminister (1985–1990) und georgischen Staatspräsidenten (1995–2003) Eduard Schewardnadse (1928–2014). Das Buch wurde auch verfilmt und gilt heute laut Mitteilung des deutschen Verlags »als wichtigster Roman der georgischen Gegenwartsliteratur«.

 

Seit Wegfall der Visumpflicht im vergangenen Jahr für Reisen in die EU steigt auch die Zahl sogenannter unbegründeter Asylanträge von Georgiern. In Deutschland entfielen im ersten Halbjahr 2018 von den 81.765 Asylanträgen drei Prozent auf Migranten aus Georgien. Warum die Menschen ihr Land verlassen wollen, davon geben die beiden Romane des 1966 in Tiflis geborenen Schriftstellers Morchiladze eine Ahnung.

 

Sein »Filmvorführer« erschien zwar 2009, spielt aber in einer kleinen westgeorgischen Stadt ab 1970 bis in die Jahre der Perestroika. Die geheimnisvolle Titelfigur, in Wirklichkeit ein Fürst aus Afghanistan, hält ihre schützende Hand über einen jungen Georgier, der sich mit dem Mann angefreundet hat. Und diese schützende Hand reicht immer noch bis nach Afghanistan, wohin der Georgier in den Krieg geschickt wird. Und darüber hinaus.

 

Hauptfigur des zweiten Buches von Morchiladze, der »Reise nach Karabach«, ist ebenfalls ein junger Mann auf den Pfaden der Selbstentdeckung und Selbstfindung. Wie so mancher in der Adoleszenz weiß auch er weder woher noch wohin und was er im Leben anfangen oder beenden soll. 1992, die Regierung ist gerade zerbrochen, der Präsident außer Landes vertrieben, auf den Straßen von Tbilissi herrschen Anarchie und paramilitärische Einheiten, fährt er aus lauter Jux und Tollerei und aus Kameradschaft mit einem Kumpel in einem Lada nach Aserbaidschan, um Drogen zu kaufen. Die tumben Toren verfahren sich und landen im umkämpften Karabach. Knall peng.

 

Sie sehen: Es gibt viel zu entdecken. Unkonventionelles. Neues. Also, auf nach Georgien, an Herbst- und Winterabenden vom Lesesessel aus oder vielleicht persönlich: Das Auswärtige Amt in Berlin beschreibt die Sicherheitslage in Georgien als stabil, sofern man die unmittelbare Nähe zu Konfliktregionen meidet (Abchasien, Südossetien). Im Bergverlag Rother, dessen Bücher mich bisher zuverlässig bei Trekkingtouren im Hochgebirge begleitet haben, gibt es neu auch einen Wanderführer »Georgien«.

 

Übrigens: Auch in Ossietzky wurde gelegentlich über georgische Bücher berichtet, zum Beispiel in Heft 3/2015 über Otar Tschiladse: »Der Garten der Dariatschangi« und in Heft 8/2017 über Micheïl Dshawachischwili: »Das fürstliche Leben des Kwatschi K.«.

 

 

Tschabua Amiredschibi: »Data Tutaschchia – Der edle Räuber vom Kaukasus«, aus dem Georgischen von Kristiane Lichtenfeld, Kröner Verlag, 696 Seiten, 32 €; Aka Morchiladze: »Der Filmvorführer«, aus dem Georgischen von Iunona Guruli, Weidle Verlag, 140 Seiten, 19 €; Aka Morchiladze: »Reise nach Karabach«, aus dem Georgischen von Iunona Guruli, Weidle Verlag,180 Seiten, 20 €. Die Frankfurter Buchmesse 2018 ist für Privatbesucherinnen und -besucher am Samstag/Sonntag, 13./14. Oktober, ab 9 Uhr geöffnet; am Thalia Theater in Hamburg ist im November und Dezember an vier Terminen wieder die fünfstündige Bühnenfassung von »Das achte Leben« zu sehen.