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Titel1919

Rechtsanspruch auf Wiedereinbürgerung gefordert  (Ulla Jelpke)

»Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhalten, können der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben.« Die Nazis hatten nach ihrer Machterlangung nicht viel Zeit verstreichen lassen, bis sie im Juli 1933 im »Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit« jenen deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die sich ins Exil geflüchtet hatten, mit der Ausbürgerung drohten. Bei jüdischen Flüchtlingen wurde das Verfahren im November 1941 durch eine sogenannte Sammelausbürgerung vereinfacht: »Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn er beim Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat«, so § 2 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz.

 

Den Betroffenen dieser Willkürakte, einschließlich ihrer Nachfahren, garantiert das Grundgesetz einen Anspruch auf Wiedereinbürgerung – eigentlich. Doch in der Praxis erweisen sich die einschlägigen Regelungen als schier unübersichtlicher Flickenteppich. Zwar werden Jahr für Jahr 2000 bis 3000 Einbürgerungen auf Grundlage von Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz vorgenommen, zahlreichen Betroffenen wird die Wiedereinbürgerung aber verweigert beziehungsweise von behördlichen Ermessensentscheidungen abhängig gemacht. Betroffen sind vor allem die Nachkommen geflüchteter Frauen.

 

Das Problem gibt es schon lange, wurde von der Politik aber nie thematisiert. Das änderte sich erst, als Ende 2018 die britische Betroffeneninitiative »article116exclusionsgroup« eine intensive Medienarbeit begann. Der Zusammenhang mit dem Brexit liegt auf der Hand: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag die Zahl britischer Antragsteller zwischen 2013 und 2015 im unteren zweistelligen Bereich. 2016, im Jahr des Brexit-Referendums, stieg sie auf 149, im folgenden Jahr auf 614. Eine deutsche Staatsbürgerschaft würde es den Antragstellern ermöglichen, Unionsbürger zu bleiben. Inzwischen haben sich auch Nachfahren ausgebürgerter Deutscher, die heute in den USA, Australien und anderen Ländern leben, der britischen Betroffeneninitiative angeschlossen.

 

Nur einen bedingten Rechtsanspruch auf (Wieder-)Einbürgerung gibt es nach aktueller Rechtslage beispielsweise für Nachfahren deutscher Frauen, die zwar zwangsausgebürgert wurden, aber zum Zeitpunkt der Geburt mit einem ausländischen Mann verheiratet waren. Denn nach dem damaligen, aus dem Kaiserreich stammenden Staatsangehörigkeitsrecht wurde die Staatsangehörigkeit nur vom Vater, nicht aber von der Mutter aufs Kind übertragen. Die Ausbürgerung der Frau war demnach nicht ursächlich dafür, dass ihre Kinder keine Deutschen wurden. Diese frauenfeindliche Regelung wurde 1974 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Die Kinder, nicht aber die Enkel konnten nun ihre Einbürgerung beantragen, jedoch nur, wenn sie nach dem 1. April 1953 geboren wurden. Für davor Geborene und deren Nachkommen gibt es nur die Möglichkeit sogenannter Ermessenseinbürgerungen, bei denen die deutschen Behörden unter anderem prüfen, ob die Antragsteller ausreichende »Bindungen an Deutschland« haben und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können.

 

Überhaupt keinen gesetzlichen Einbürgerungsanspruch haben die Nachkommen jener geflüchteten deutschen Frauen, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar durch NS-Unrecht verloren. Das musste beispielsweise die US-Bürgerin Katherine L. Scott erfahren, der das Bundesverwaltungsamt auf ihren Antrag hin mitteilte, ihre Mutter habe Deutschland »mit einem deutschen Pass verlassen« und erst 1940 ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren, und zwar durch die Eheschließung mit einem britischen Mann, also gemäß dem kaiserlichen Recht. Selbst schuld, lautet das Fazit.

 

Auch Peter Guillery, der in Großbritannien lebt, hat kein Recht, Deutscher zu werden. Seinem Vater wurde 1938 als Neunjährigem ein »J« in den Kinderausweis gestempelt (das Dokument besitzt Peter heute noch). Nachdem die Familie nachweisen konnte, dass nur die Mutter des Kindes Jüdin war, der Vater aber »Arier«, wurde das rote »J« 1939 mit einem schwarzen »X« wieder durchgestrichen. Peter Guillerys Großmutter zog es allerdings vor, mit ihrem Sohn doch lieber ins britische Exil zu gehen. Dort blieben sie auch nach dem Krieg. Sein Vater wurde 1948 als Brite eingebürgert.

 

Genau dadurch, so findet das Bundesverwaltungsamt, habe der Vater die deutsche Staatsangehörigkeit verloren, und eben nicht durch einen Nazi-Willkürakt (die oben erwähnte Sammelausbürgerung von 1941 galt nur für »Volljuden«). Selbst schuld, so lautet auch hier das behördliche Fazit.

 

Peter Guillery kommentierte das in einer E-Mail an mich ironisch: »Wir lassen die Frage beiseite, was meine jüdische Großmutter mit ihrem halbjüdischen neunjährigen Sohn hätte tun sollen, als ihre Ausweise im Begriff waren, konfisziert zu werden, außer im Ausland Zuflucht zu suchen. Sogar mit gestrichenem ›J‹ hätte man nicht erwarten können, dass er eine Wiederkehr nach Deutschland riskiere, mit oder ohne seine ›volljüdische‹ Mutter. Uns scheint, dass das Reichsbürgergesetz und die Judenstempelverordnung doch in einem unmittelbaren kausalen Verhältnis zu einer Ausreise stehen, ohne welche er deutscher Staatsangehöriger geblieben wäre.«

 

Die Annahme, dass die deutschen Vorfahren der heutigen »Ausländer« ohne Naziherrschaft nicht ins Ausland geflohen und also Deutsche geblieben wären, scheint auf der Hand zu liegen. Nur ist das aus Behördensicht egal: In einer zynischen Vorführung von Empathielosigkeit befand das Bundesverwaltungsgericht schon 1968, es sei »unerheblich, wie das individuelle Lebensschicksal der Betroffenen ohne die nationalsozialistische Verfolgung verlaufen wäre und zu welchen staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen es geführt hätte«.

 

Ebenso durchs Raster von Einbürgerungsansprüchen fallen die Nachkommen jener deutschstämmigen Bewohner der ab 1938 »angeschlossenen« beziehungsweise besetzten Territorien, denen die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit (etwa durch Eintrag in die Deutsche Volksliste) verweigert wurde, weil sie als Juden, Sinti oder politisch »Unzuverlässige« ausgegrenzt wurden. Mit Blick auf diesen Personenkreis machte sich in den 1950er Jahren eine Referentenrunde von Bund und Ländern Sorgen über die »Schwierigkeiten, die sich bei der Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit insbesondere bei den Ostjuden ergeben«. Man braucht kaum zu betonen, dass unter den Experten etliche frühere NSDAP-Mitglieder waren, wie Nick Courtman, Sprecher der article116exclusionsgroup, durch sein intensives Aktenstudium herausfand.

 

Vereinfacht gesagt, sind es also vor allem drei Fallkonstellationen, bei denen ein Rechtsanspruch auf (Wieder-)Einbürgerung verweigert wird: Nachkommen von Frauen, die – etwa durch Heirat mit einem ausländischen Mann – die deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatten, bevor die Nazis sie ihnen formell entzogen; vor 1953 geborene Nachkommen von Frauen, die zwar zwangsausgebürgert worden waren, aber zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes schon mit einem ausländischen Mann verheiratet waren; Nachkommen von Personen, denen aus rassistischen oder politischen Gründen die Einbürgerung verweigert worden war.

 

Katherine L. Scott musste für ihren erfolglosen Antrag 149 Euro Gebühren bezahlen. Wie viele Anträge in den letzten Jahren abgelehnt wurden, darüber gibt es keine offizielle Statistik. Die Betroffenengruppe zählt aber mittlerweile schon einige Hundert Unterstützer. Der Zentralrat der Juden in Deutschland unterstützt ihre Forderung nach einer großzügigen Neuregelung des Einbürgerungsverfahrens. Die Bundesregierung hat Ende August solche Neuregelungen beschlossen, allerdings nicht per Gesetz, sondern nur durch zwei Erlasse. Diese erweitern den Kreis der Antragsberechtigten und verzichten immerhin auf den Nachweis der Unterhaltsfähigkeit. Aus Sicht der article116exclusionsgroup sind sie dennoch völlig unzureichend: Adoptivkinder sind davon ausgeschlossen, ebenso die Nachfahren deutschstämmiger Juden aus den »Ostgebieten«. Auch Nachfahren ausländischer, aber in Deutschland geborener und aufgewachsener Juden und Antifaschisten, die vor nationalsozialistischer Verfolgung fliehen mussten und so vom Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen wurden, werden von den neuen Erlassen nicht berücksichtigt. Sie gelten zudem nur für Personen, die sich im Ausland aufhalten, schließen aber jene aus, die bereits in Deutschland leben.

 

Anzumerken ist, dass auch die neuen Erlasse eine Einbürgerung vom Nachweis deutscher Sprachkenntnisse sowie von »Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland« abhängig machen. »Vor allem ältere Mitglieder unserer Gruppe haben Angst und fürchten, mit mehr als 70 Jahren keine neue Sprache lernen zu können. Auch wissen die meisten nicht, wie sie sich auf die Prüfung der Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland vorbereiten sollen«, erklärt Nick Courtman dazu.

 

Linkspartei und Grüne kritisieren zudem, dass die Erlasse eben keinen Rechtsanspruch begründen, sondern lediglich die Aussicht auf »wohlwollende Handhabung« von Einbürgerungsanträgen erhöhen. Die beiden Oppositionsparteien haben Gesetzentwürfe erarbeitet, die unterschiedlich weit reichen. Beide schließen ausdrücklich die oben beschriebenen Fallkonstellationen ein, in denen der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit »nur« eine mittelbare Folge der NS-Verfolgung war. Der Grünen-Gesetzentwurf sieht vor, dass Antragsteller, die nicht selbst von den Nazis verfolgt wurden (also die Nachkommen), ihre Bindungen an Deutschland unter Beweis stellen müssen. Der Antrag der Linken verzichtet auf diese Einschränkung und betont, es sei »nicht hinnehmbar«, den Nachfahren von NS-Opfern »eine Bringschuld gegenüber Deutschland aufzuerlegen«.

 

 

Weitere Informationen: https://www.article116exclusionsgroup.org/