Am 14. November 2019 wäre der bedeutende Zeichner Horst Janssen 90 Jahre alt geworden. Ihm ist einer der drei Themenschwerpunkte der Schrift »Freipass« gewidmet, die in der Günter und Ute Grass Stiftung erscheint. Sein auch heute noch als Postkarte erhältliches Grass-Porträt schmückt das Cover.
Janssen (1929–1995) war auch für Günter Grass (1927–2015) einer »der ganz Großen«. Die Beziehung der beiden sich in der jeweiligen Doppel-Begabung (oder ist Vielfach-Begabung richtiger?) ähnelnden Künstler reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Janssen hatte damals aus dem Lyrikzyklus »Zorn Ärger Wut« die »letzte Strophe des zweiten Gedichts ›Irgendwas machen‹ sowie das komplette Gedichtrezept ›Die Schweinekopfsülze‹ – das man real nachkochen kann – von Hand abgeschrieben und mit vier Randzeichnungen versehen«, wie im Vorwort der Schrift zu lesen steht.
Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des geistigen Bandes, das die beiden Kultur-Giganten verband, liefert der Journalist Manfred Bissinger, der mit beiden befreundet war und daher auf Insiderwissen zurückgreifen konnte. Für ihn war Janssen ein »hypersensibler, blitzschnell denkender Intellektueller«, den aber »immer wieder … die Courage vor seinen eigenen Worten verließ« – im Gegensatz zu Grass, darf ich aus persönlicher Erfahrung hinzufügen. Den Versuch, »Horst Janssen kunstgeschichtlich einzuordnen«, unternimmt Jutta Mooster-Hoos, Leiterin des Horst-Janssen-Museums in Oldenburg. Dort wird zurzeit eine große Schau zum 90. Geburtstag vorbereitet, in deren Fokus die literarische Begabung des Künstlers stehen soll.
Beiträge zur Grass-Forschung bilden den zweiten Schwerpunkt mit Essays: zu seinem Fontane und Fontanes Hoftaller in dem grandiosen Roman »Ein weites Feld«; zu der Freundschaft zwischen Grass und dem Schriftsteller Nicolas Born (1937–1979); zur literarischen Freundschaft mit der Übersetzerin, Verlagslektorin und Schriftstellerin Eva Figes (1932–2012); zum Kaschubischen bei Grass; zur Marienverehrung in der Novelle »Katz und Maus« und schließlich zur aktuellen Rezeption des Dichters im In- und Ausland.
»Zunge zeigen«, unter diesem mehrdeutigen Titel eines Grass-Buches aus dem Jahre 1988, nach seinem Indien-Aufenthalt entstanden, versammelten die Herausgeber die Beiträge des dritten Schwerpunkts. Hier geht es um Rechtspopulismus, Werteverlust und Mordanschläge sowie um die Fragen, wie Autorinnen und Autoren darauf reagieren und was (Sprach-)Kunstwerke bewirken können.
Christian Hippe, stellvertretender Leiter am Literaturforum im Berliner Brecht-Haus, gibt einen Überblick über aktuelle Initiativen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern gegen rechts. Im Mittelpunkt steht die Entscheidung – wie in den Jahren zuvor auch 2017 – rechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse zuzulassen und damit rechten Meinungsführern wie Björn Höcke oder österreichischen Identitären eine Plattform zu bieten.
Gegenaktionen und kritische Stellungnahmen riefen wiederum die Dresdner Buchhändlerin und AfD-Sympathisantin Susanne Dagen auf den Plan. Sie startete unter dem Titel »Charta 2017« – unverfroren auf die Bürgerrechtsbewegung »Charta 77« in der ČSSR anspielend – eine Online-Petition, in der sie den Kritikern vorhielt, dass »unsere Gesellschaft nicht mehr weit von einer Gesinnungsdiktatur entfernt« sei. Zu den Erstunterzeichnern gehörten die frühere Abgeordnete der DDR-Volkskammer Vera Lengsfeld, der ehemalige Spiegel- und Welt-Journalist Matthias Matussek und der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Uwe Tellkamp (»Der Turm«). Prompt starteten 100 Unterzeichner aus dem Literatur- und Kulturbetrieb mit dem »Aufruf Dresdner Autoren« eine Gegenbewegung. Zu den weiteren Themen dieses informativen Schwerpunktes gehört ein Bericht über »Dänische Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Narrativen«.
Auch die Schriftstellerin und Übersetzerin Dagmar Leupold »zeigt Zunge«. In ihrem – hier abgedruckten – Eröffnungsvortrag des Studienjahrs 2018/19 am Leibniz-Kolleg der Universität Tübingen spürt sie der Frage nach, »was Menschsein ausmacht«, sowie der Rolle von Sprache, Begriffen, Kunst und Kultur. Zitat: »Wir brauchen die Kunst als Quelle lustvoller, erkenntnisreicher ästhetischer Erfahrung, als Störenfried und Unruheherd, als Wahrnehmungskorrektiv und Spiegel oder Zerrspiegel der Gesellschaft, in deren Mitte sie entsteht. Und als Ermutigung, nicht nachzulassen im skeptischen Hoffen auf die Erfüllung …. [der] Teilhabe aller am Wohlstand, dem materiellen wie dem immateriellen, [auf] friedliches Zusammenleben in Vielfalt. Und wir brauchen sie als Trost – nicht als Sedativ – wenn sich diese Hoffnung immer wieder zerschlägt. Es ist die Aufgabe von Politik, Kunst und Kultur als unverzichtbaren integralen Bestandteil offener Gesellschaften zu verteidigen, ein Bestandteil, der nicht dem freien Spiel des Markts preisgegeben werden darf.«
Dies ist genau der Platz, wo sich der »Freipass« verortet.
Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa (Hg.): »Freipass – Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik«, Band 4: Horst Janssen und Günter Grass; Schriften der Günter und Ute Grass Stiftung, Ch.Links Verlag, 297 Seiten, 20 €