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Titel1919

Respekt dem Mahner  (Ralph Dobrawa)

Kurt Nelhiebel ist dem regelmäßigen Ossietzky-Leser unter dem Pseudonym Conrad Taler bestens bekannt. In seinen Aufsätzen macht er auf bedeutsame Probleme des aktuellen Zeitgeschehens mit kritischer Kommentierung aufmerksam. Für mich sind seine Beiträge immer bereichernd, was auch für sein jüngst erschienenes Buch »Das dünne Eis von gestern und heute« zutrifft, welches den Untertitel »Zeitgeschehen nah besehen« trägt. Es ist geradezu ein Lesevergnügen, wenn man die vielen kurzen Beiträge zu ganz unterschiedlichen Themen der zurückliegenden Jahre verinnerlichen kann. Ja, verinnerlichen ist wohl der richtige Begriff, da jeder Beitrag die innere Auseinandersetzung mit den Thesen des Autors fördert. Oft stimme ich mit der Auffassung von Nelhiebel überein. Diese Tatsache ist für mich auch eine erfreuliche Bestätigung, da er der wesentlich Weisere ist, der mit 92 Jahren über drei Jahrzehnte mehr Lebenserfahrung verfügt.

 

Nelhiebel verfolgt Geschehnisse ausdauernd und gründlich. Er hat die Gabe, die Dinge nicht nur beim Namen zu nennen, sondern auch in kurzen Einschätzungen zum Wesentlichen zu kommen. In einem Zeitalter, wo sich mancher gern reden hört oder seitenlange Ausführungen von sich lesen möchte, übt er sich in Bescheidenheit, die mit großer Klugheit und Prägnanz gepaart ist. Das gerade macht seine Beiträge in dem Sammelband so spannend. Der Leser ist nicht gehalten, das Buch innerhalb kürzester Zeit vom Anfang bis zum Ende an einem Stück zu lesen, sondern kann sich nach und nach den ganz unterschiedlichen Themen widmen. Es lohnt, nach dem einen oder anderen Artikel innezuhalten und sich mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen. Das Spektrum ist breit, aber immer davon geprägt, dass der Autor sich mit Entschiedenheit gegen alten und neuen Nazismus wendet, Ehre und Ansehen von Widerstandskämpfern gegen die faschistische Diktatur bewahrt und vor allem den gegenwärtig agierenden politischen Parteien den Spiegel vorhält. Wahrheit, Macht und Moral gehören für Nelhiebel zusammen, im politischen Alltag ist das aber oft nicht der Fall. Man würde sich wünschen, dass mancher der von ihm namentlich angesprochenen Politiker die Beiträge nicht nur liest, sondern daraus auch Schlussfolgerungen für sein Verhalten zieht. Auch wenn das in der Realität vermutlich selten passiert, wird der Autor nicht müde, als Journalist alter Schule zu mahnen, anzuprangern und einzufordern. Dabei macht er vor fast keinem Thema halt, egal ob es um die Entwicklung des Deutschen Historischen Museums geht, das Vermächtnis von Roman Herzog oder das Eintreten für die Bewahrung des Erbes von Fritz Bauer. Kurt Nelhiebel hat den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts miterlebt. Er weiß nur zu gut, wovon er schreibt und wohin es führen kann, wenn mancher aktuellen Entwicklung nicht entgegengetreten wird. Mancher hängt an der These fest, Geschichte würde sich nicht wiederholen. Dass eine solche Floskel im Zweifel nichts wert sein kann, zeigt vor allem die gegenwärtige beängstigende Entwicklung. Das betrifft vor allem den zunehmenden Rechtsextremismus, der inzwischen auch mit massiver Gewalt, Todesdrohungen gegenüber Politikern und sogar Mord verbunden ist. All das und sehr viel mehr ist Nelhiebels große Sorge, die unser aller Sorge sein sollte. Seine Beiträge sind nicht selten auch ein Aufruf, sich einzureihen in die Schar der Mahner und getragen von dem Wunsch, die Botschaft in geeigneter Weise weiterzutragen. Er bedient sich dabei nicht nur einer guten Beobachtungsgabe, sondern überzeugt auch durch sprachliche Brillanz.

 

Wer sich für das Denken und die Schlussfolgerungen von Kurt Nelhiebel interessiert und wem Zeitgeschehen nicht nur Zeitvertreib ist, der wird das Buch als Bereicherung empfinden. Da schreibt einer, der genau Bescheid weiß, dem man nichts vormachen kann und der vor allem Hintergründe und Zusammenhänge sorgsam recherchiert und bewertet. Für mich bleibt mancher Historiker weit hinter ihm zurück, was vermutlich auch etwas damit zu tun hat, dass man sich Erfahrungen nur sehr bedingt »anlesen« kann. Hier ist klar im Vorteil, wer die Möglichkeit hat, auf eigene Erlebnisse zurückgreifen zu können. Ich wünsche mir noch viel aus seiner Feder für die kommenden Jahre, ganz gleich ob als Buch oder als Aufsatz in Ossietzky.

 

 

Kurt Nelhiebel: »Das dünne Eis von gestern und heute – Zeitgeschehen nah besehen«, Ossietzky Verlag, 256 Seiten, 14 € zzgl. 1,50 € Versandkosten, Bestellung: ossietzky@interdruck.net