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Gramscis Wiederkehr  (Bernd Röttger)

Die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit sind gehörig in Bewegung geraten. Gewerkschaftlich erstrittene Tarifverträge beschrieben eine Mindestnorm, die durch betriebliche Vereinbarungen überschritten werden konnte. Tempi passati! Unter dem Druck von Verlagerungs- und Schließungsdrohungen der Unternehmen stimmen Belegschaften und Betriebsräte oft Abweichungen vom Flächentarifvertrag zu. In scheinbar alternativlosen »Standortsicherungsvereinbarungen« und »betrieblichen Wettbewerbspakten« werden geltende Tarife unterlaufen. Die Routine der Interessenpolitik: mit dem Rücken an der Wand. Der Flächentarifvertrag wird von einer Mindest- zu einer Höchstnorm.

Der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens und bedeutendste Staatstheoretiker des Marxismus, Antonio Gramsci, notierte eine ähnliche Krise gewerkschaftlicher Schutzpolitik schon Anfang der 1920er Jahre: Die von den Gewerkschaften erkämpften kollektivvertraglichen Regeln »nützten nicht mehr«. Die Gewerkschaft könne »nicht mehr ignorieren, daß Lohnkürzungen erfolgt sind und … die Industriellen … keine Vereinbarung mehr (respektieren); je nachdem, wie stark sie sich fühlen, handeln sie.«

Die Aktualität der Analyse Gramscis stand im Mittelpunkt der erstmals organisierten Braunschweiger Gramsci-Tage. Betriebsräte, Gewerkschafter, Bewegungs- und Parteilinke sowie Studierende diskutierten Gramscis Texte und das Verhältnis von betrieblichen und überbetrieblichen Kämpfen.

Aus seinem Engagement für die Turiner Fabrikrätebewegung seit 1918 und der Erfahrung ihrer Niederlage entwickelte Gramsci sein Konzept emanzipatorischer Politik in den »fortgeschrittenen Staaten«. Weil die Fabrikräte ihren Kampf nicht als einen gesellschaftlichen verstanden und die reformistischen Gewerkschaften den revolutionären Räten die Unterstützung versagten, wurden sie in den Betrieben geschlagen. Weil die politische Aktion der damaligen Sozialistischen Partei sich ohne eigene Vorstellungen auf das parlamentarische Spiel einließ, »wurde sie von der Wirklichkeit absorbiert«. Für Gramsci stand fest, daß zwischen betrieblichen und politischen Kämpfen »organische« Beziehungen hergestellt werden mußten.

Im fordistischen Kapitalismus nach 1945 kam jedoch die reformistische Gewerkschaftspolitik zu ihrer vollen Blüte: Gewerkschaften betrieben zunehmend erfolgreich ihr »Kerngeschäft«, die Tarifpolitik, und feilten mit der Sozialdemokratie an »strategischen Beziehungen« in den Staat: »Nur noch alle drei Jahre ein Kongreß, möglichst keine Mitgliederversammlungen, keine Problemdiskussionen, keine gewerkschaftlichen Aktionen, bestenfalls Telegramme an den Bundeskanzler« – so beschrieb Viktor Agartz ironisch die neue Gewerkschaftskultur.

Die Entpolitisierung der Gewerkschaftspolitik schlägt heute auf sie selbst zurück. Denn hinter der Defensive in der Betriebs- und Tarifpolitik verbirgt sich auch eine kulturelle Krise: Gewerkschaften haben die Mobilisierungsfähigkeit für betriebliche Auseinandersetzungen in Teilen nicht nur der Belegschaften, sondern auch der betrieblichen Interessenvertretungen eingebüßt.

Aus den Erfahrungen des Rückschritts und Verlusts können jedoch auch Kräfte gewerkschaftlicher Erneuerung entstehen: politisierende Beteiligungsstrategien und Bildungskonzepte in der Betriebs- und Tarifpolitik statt pazifizierender Stellvertreterpolitik, neue lokale Protest- und Bewegungsformen, die eine lokale Arbeiterbewegung wieder sichtbar machen. In Arbeitskämpfen werden hierarchisierte Beziehungen zwischen Belegschaften, Betriebsräten und Gewerkschaften oft gehörig durcheinandergewirbelt – und demokratisiert.

In diesen Defensivkämpfen kann sich Interesse an einer neuen politischen Rezeption der Theorie Gramscis bilden. Neu ist, daß nicht nur Intellektuelle diese Diskussion tragen, sondern auch gewerkschaftliche Aktivisten. Und das nicht nur in Deutschland: Unter dem Titel »Vom Alltagsverstand zum Widerstand« veranstaltete ein breites Bündnis von Studierenden, Partei- und Bewegungslinken sowie Gewerkschaftsjugend kürzlich in Wien ein Gramsci-Symposium. Vieles deutet darauf hin, daß die Rezeption Gramscis zu einem wichtigen Katalysator für eine repolitisierte Gewerkschaftspolitik werden kann – jenseits der rückwärtsgewandten Vision »alte soziale Marktwirtschaft«.