Der wahlkämpfende Ministerpräsident Roland Koch hat seinen Justizapparat anscheinend ganz schnell auf Linie bringen können. Das jedenfalls versuchte die Bild-Zeitung ihren Lesern kurz vor dem Wahltermin in Hessen weiszumachen. Auf der ersten Seite ihrer Ausgabe vom 17. Januar propagierte sie mit weißer Schlagzeile auf schwarzem Grund: »Hessen schickt Schläger (16) nach Sibirien!« Und darüber in schwarzen Lettern: »Bei minus 55 Grad Holz hacken«. Und daneben: »Es geht offenbar auch anders!«
Das war Nahrung für Stammtischbrüder mit Freude an braunen Parolen: Recht so, Schluß mit der Kuschelpädagogik und dem Integrationsgesäusel! Harte Kante, ab nach Sibirien! In Stern.de durfte der Leser »guzziman« seiner aufgepeitschten Seele freien Lauf lassen: »Ich würde ihn (einen mutmaßlichen Schläger, O. M.) 2 Jahre im Knast schuften lassen, 16 Stunden bei Wasser und Brot.« Danach gehöre er »incl. seiner Familie vom Opa bis zum Baby aus Deutschland ausgewiesen«. Ganz klar, Sippenhaftung muß sein.
Koch hatte ja sogleich nach dem Angriff von zwei Jugendlichen (einem zugewanderten Griechen und einen hier Geborenen mit türkischem Paß) auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn die »Ausländer-raus-Hetze« wahlstrategisch aufbereitet, mit beängstigender Unterstützung fast aller Medien. Die Kampagne geriet allerdings etwas ins Stocken, als publik wurde, daß Kochs Regierung die Ausgaben für Polizei, Justiz und Gefängniswesen derart zusammengestrichen hatte, daß in seinem Bundesland angezeigte Straftaten auf eine Bank geschoben werden, die noch länger ist als andernorts.
Außerdem sprach sich herum, daß randalierende und gelegentlich gewalttätig werdende junge Männer nicht unbedingt aus Einwandererfamilien stammen müssen. Auch aus der »deutschen Leitkultur« rekrutiert sich eine Jugend, die ihren Frust aus vernachlässigten Schulen, verweigerter Berufsausbildung und allgemeiner Perspektivlosigkeit nur in Randale, Drogen, Alkohol auszuleben vermag. Bei offiziell ausgewiesenen mehr als 500.000 Arbeitslosen unter 25 Jahren (die tatsächliche Zahl ohne reguläre Beschäftigung beträgt weit über eine Million) verwundert es beinahe, daß nicht noch mehr auffällig werden.
Die von Koch und den ihm gewogenen Medien wieder einmal angeheizte Progromstimmung richtet sich wie immer zunächst gegen Ausländer – schon dieses Wort soll ja deren Nichtzugehörigkeit zu »uns Deutschen« signalisieren. Sehr schnell können dann aber auch alle anderen ausgeschlossen werden, die sich nicht einfügen wollen oder können. Wer nicht klaglos den Platz hinnimmt, den ihm die sich ausdifferenzierende Marktgesellschaft zuweist, muß raus. So hat es dann wohl auch kaum einen Bild-Zeitungsleser irritiert, daß man auf Seite 10 derselben Ausgabe lesen konnte, der nach Sibirien deportierte 16-jährige sei vom Jugendamt des Kreises Gießen schon im Sommer in ein »Erziehungscamp hinter dem Ural« für mindestens neun Monate geschickt worden, für 150 Euro pro Tag ...
Wie man aus anderen Medien erfahren konnte, handelt es sich um einen Deutschen – Bild hatte die Paßfrage manipulativ offen gelassen. Der Junge sei »schwer erziehbar«, habe sich wiederholt sehr aggressiv gegen seine Mutter und die Erzieher gezeigt. Der Dezernent des Jugendamtes stellte klar, daß der Sibirienaufenthalt eine »erlebnispädagogische Maßnahme« in einem Dorf sei, betreut von einem Erzieher eines gemeinnützigen Vereins.
Nachdenklich wird unsereins da schon: Gab es vor einigen Generationen nicht schon einmal eine männliche Jugend, die am Ende in Sibirien umlernen mußte?