In einem Interview mit dem Deutschlandradio im August 2007 empfahl Bundesinnenminister Schäuble der Hörerschaft eine Buchlektüre: »Selbstbehauptung des Rechtsstaats« von Otto Depenheuer, Staatsrechtler aus Köln. Denn der Minister und der Professor sind sich darin einig, daß die staatliche Rechtsordnung nicht mehr zur terroristischen Bedrohung paßt.
Nach Depenheuer verwickelt die islamistische Gefahr den Westen in einen Jahrzehnte dauernden »Krieg gegen den Terror«. Die »Feinde« kämen nicht mehr nur von außen, sondern lauerten auch im Innern, seien »virtuell allgegenwärtig«. Dieser Bedrohungsanalyse entsprechend erwartet Depenheuer das »Bürgeropfer« als Loyalitätspflicht der eigenen Bürger gegenüber der politischen Gemeinschaft und kritisiert das Bundesverfassungsgericht dafür, ihnen diese Möglichkeit – des Selbstopfers – zu nehmen. Denn im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz vom Februar 2006 hatten die Verfassungsrichter dem Ansinnen der Staatsmacht, eine in Terroristenhand befindliche Passagiermaschine abschießen zu dürfen, einen Riegel vorgeschoben – mit der Begründung, daß ein Bürger nicht zum »bloßen Objekt« degradiert werden dürfe. Die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde stehe dem bewußt herbeigeführten Tod unschuldiger Bürger entgegen. Nach Depenheuers Meinung kann der Staat seiner Schutzpflicht gegenüber den Bürgern nicht mehr genügen, wenn er auf diese Weise daran gehindert werde, sich gegen die Gefährdungen von innen und außen zur Wehr zu setzen. Die Selbstbindung durch die Idee der Menschenwürde untergrabe die Prämissen der Selbstbehauptung. Diese erforderten die klare Bestimmung des »Feindes« und die Bereitschaft zum »Bürgeropfer«.
Depenheuer spricht hier ganz im Sinne des Wegbereiters der NS-Rechtswissenschaft, Carl Schmitt, für den einst galt: »Die politische Einheit muß gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen. Für den Individualismus des liberalen Denkens ist dieser Anspruch auf keine Weise zu erreichen und zu begründen.« (»Der Begriff des Politischen«, 1932)
Nach Depenheuer lehnt der »Feind« die demokratische Rechtsordnung prinzipiell ab, bewegt sich außerhalb des staatlichen Gegenseitigkeitsverhältnisses und verfällt darum selbst der Rechtlosigkeit. Depenheuer rekurriert hier auch auf das rechtsphilosophische Konzept seines Bonner Fachkollegen Günther Jakobs, der schon seit Mitte der 1980er Jahre in seinen Aufsätzen und Vorträgen die Trennung eines Feindstrafrechts vom Bürgerstrafrecht fordert, das heißt die gesonderte Kodifizierung feindstrafrechtlicher Bestimmungen zur präventiven Bekämpfung von Gefahrenquellen – im Vorfeld von Delikten, von denen man annimmt, daß sie irgendwann einmal begangen werden könnten.
Nach Jakobs sind die »Feinde« diejenigen, die sich »vermutlich dauerhaft, zumindest aber entschieden vom Recht abgewandt haben«. Ihnen stehen die mit Rechten und Pflichten ausgestatteten »Personen« gegenüber, die die normativen Erwartungen rechtstreuen Verhaltens erfüllen, auch wenn sie – in Ausnahmefällen – strafrechtlich sanktionierbare Delikte begehen. Als »prinzipiell Abweichende«, die nicht als Bürger, sondern als Feinde zu behandeln sind, nennt Jakobs den Terroristen, den Gewohnheitsverbrecher, das Mafia-Mitglied – allesamt »Unpersonen«, die ihren Anspruch verwirkt hätten, als »Personen« behandelt zu werden, weil sie nur noch als rechtlose Individuen im Naturzustand existierten. Die »Unpersonen« seien als rein triebgesteuerte, von Lust und Unlust geprägte natürliche Wesen zu klassifizieren.
Während nach diesem Konzept »Personen« als Normgetreue in ihren sozialen Belangen respektiert werden, gelten »Unpersonen« als permanente potentielle Gefahrenquellen für das gemeinschaftliche Ganze. Sie können aus eigenem Recht keine Rücksichtnahme auf ihre elementaren Interessen erwarten. Die Erhaltung des Status der »Person« setzt also Erfüllung von Pflichten, kurz: Wohlverhalten voraus. Die »Personen« müssen sich ihren Status regelrecht verdienen – was der Idee angeborener Rechte widerspricht. Indem Jakobs in seinem Strafrechtsmodell dem »Normalrecht« das »Ausnahmerecht« zur Seite stellt, wird der Ausnahmefall zur Regel.
Die Gemeinschaft – so lernen wir von diesen Strafrechtslehrern – braucht den inneren und äußeren »Feind«, wenn Selbstbehauptung zur vorrangigen Staatsaufgabe werden soll und Sicherheit zum höchsten aller Grundwerte. Der deutschen Rechtsordnung macht Depenheuer zum Vorwurf, den »Feind« nicht als solchen ernst zu nehmen, da sie ihm subjektive Rechte zugestehe. Indem der Staat die Menschenwürde des »Feindes« anerkenne, schwäche er die eigene Position im weltweiten und dauerhaften »Kampf der Kulturen« entscheidend.
Diese Argumentation strebt nach kontinuierlichem Ausbau einer umfassenden Bekämpfungsgesetzgebung, um die Eliminierung der Gefahrenquellen im Rahmen eines »Präventionsstaates« rechtlich abzusichern. Die polizeiliche und strafrechtliche Eingriffsschwelle gegenüber den als staatsfeindlich eingestuften Delikten sollen weiter gesenkt werden? von verdachtsunabhängigen Vorfeldermittlungen bis hin zur »Opferung« unbeteiligter BürgerInnen und zur Bejahung solcher sogenannter Kollateralschäden im Kampf gegen den Terror. Mit der Kategorie der »Feinde« produziert der Staat das »nackte Leben« (Agamben), das faktisch rechtlos gestellt wird.
Fällt der grundgesetzliche Gleichheitsgrundsatz und werden Folter oder Internierung ohne Rechtsschutz als mögliche Maßnahmen des Staates diskutabel, dann wird damit nie und nimmer die »freiheitliche Ordnung« verteidigt, im Gegenteil: So werden bisher als unveräußerlich geltende Grundrechte abgeschoben.
Die rheinischen Juristen Depenheuer und Jakobs, die solchen verfassungsfeindlichen Klartext reden, geben Schäuble die Stichworte vor. Sie können mit seiner Politik bislang zufrieden sein.