Als wir 1973 ein längeres Gastspiel im Münchner »Rationaltheater« – dem mit den Lübke-Enthüllungen im Schaukasten – absolvierten, meinten Christel und ich, auch mal eine »richtige Schwabinger Bilderausstellung« besuchen zu müssen. Als naheliegend bot sich die Galerie des Theaters am Sozialamt (TamS) an, zumal da, unseren politischen Vorstellungen entgegenkommend, »antifaschistische, antikapitalistische, zeitkritische Malerei« angeboten wurde. Als wir nach Stunden zurückkehrten, hatte sich unsere Auffassung von bildender Kunst erheblich erweitert. Völlig unvorbereitet waren wir mit großformatigen, ungemein farbigen Bildern konfrontiert gewesen: bissig, ironisch, unmißverständlich aufklärend. Kunst als Waffe – roter Schwarzer Humor, beides. Ausgestellt hatte nämlich Zingerl.
»Guido Zingerl, geboren am 19. Januar 1933 in Regensburg als Sohn ...« – so kann man ihn nicht packen. Zingerl, das ist nämlich eine pralle, manchmal deftige Welt der realen Verhältnisse in einer vorgeblich sozialen, krassen Klassengesellschaft, einer waffenstarrenden sogenannten Friedensmacht, bevölkert von gierig ausbeutenden Geldsäcken, kriecherischen Kleinbürgern, geilen Bischöfen, petschenschwingenden alt- oder neubraunen Law- and Order-Zynikern und von deren Opfern, den kleinen Leuten – aber auch von denen, die sich einzeln oder gemeinsam dagegen auflehnen. Die Bilder sind akribisch genau, enthalten häufig Zahlen und Texte, Bänkelsänger-(also Aufklärungs-)Tafeln. Aus Zingerls Triptychon über die Bauernbewegung – es reicht viereinhalb Meter von Thomas Müntzer bis heute – erfährt man, auf drei Stellen hinter dem Komma genau, alles über die Grundbesitzverteilung in Deutschland. Ich habe eine Gruppe Kleinbauern erlebt, die davorstanden: »Der kann aber malen ... und er hat Recht.«
Eine Woche nach unserem Museumsbesuch saßen dann Guido und seine Frau Ingrid ihrerseits bei uns im Publikum. Anschließend beim Bier bedrängten wir den Maler so lange, bis wir – erstmals in unserem Leben – ein Original gekauft hatten: »Hommage an Karl Heinrich Marx«; der Maler berechnete uns einen mehr als sozialen »ermäßigten Sonderpreis für Künstler, Studenten und andere arme Luder«. Später haben wir das Bild auf dreimal fünf Meter vergrößert zum Bühnenvorhang in unserem hannöverschen Theater am Küchengarten gemacht. Zingerl selbst hat ihn freilich nie gesehen, denn er ist bekennender Bayer und überschreitet als solcher die Mainlinie nur ungern. »Meine Eltern,« so erzählte er mir schaudernd, »haben einmal eine Reise in die Lüneburger Heide gemacht. Als sie fragten, wo denn nun der berühmte Wilseder Berg sei, hat man ihnen geantwortet, sie ständen darauf.« Fortan habe er nie Sehnsucht nach dem Norden verspürt. Es wird geraunt, einen bayerischen Berg, den der passionierte Bergsteiger Zingerl noch nicht wenigstens einmal bestiegen habe, gebe es nicht. Folgerichtig, daß Zingerl im Alpenverein die Sektion der »Marxisten-Alpinisten« gegründet hat. Er liebt sein Bayern zu sehr, um es den BMW-Quandts, den Stoibers und Becksteins zu überlassen, selbst wenn sie gleisnerisch in Gebirgsschützentracht auftreten. Der Wilderer Jennerwein und der historische Räuber Zingerl, von dem er sein Pseudonym entlehnte, sind ihm lieber. Daß sich unser Guido auch in bayerische Politik einmischt, in Antifa- und Friedensaktionen involviert ist, versteht sich da von selbst (s. »Zingerl und der Reichsadler«, Ossietzky 6/2000). Mir hat er übrigens Oskar Maria Graf nähergebracht, auch mit seinen neueren, ruhigen Landschaften oder »Zingerls bairischem Weiberl- und Maderlkalender«.
Zingerl zwingt es mit schlafwandlerischer Sicherheit stets auf den Punkt, auch in seinem grafischen Werk. Die vier Blätter seiner exemplarischen Büchner-Mappe sind wohl längst nicht mehr zu haben. Wer jedoch seinen Kindern (und nicht nur denen) das Wesen der bürgerlichen Klassengesellschaft erklären will, erspart ihnen Zentner von wissenschaftlicher Lektüre, wenn er sie Zingerls Blatt zu Brechts Flüchtlingsgesprächen »Fühlen Sie sich richtig frei?« betrachten läßt.
Guido Zingerls Karikaturen zu tagespolitischen Themen muß man Ossietzky-Lesern nicht erst schildern. Ihr Strich ist so unverwechselbar wie der Zeichner selbst. Wer noch mehr erleben will, sollte sich in Zingerls zahlreiche Bildbände vertiefen oder eine seiner demnächst wieder anstehenden Ausstellungen besuchen(im April Berlin, Ladengalerie der jungen Welt; im Juli Städtisches Museum Regensburg). Ach ja: Der Zingerl feierte gerade seinen 75er. Herzliche und brüderliche Glückwünsche, Guido!