Im »Gedenkjahr 2009« ist die Aufarbeitung der DDR planmäßig in eine neue Phase getreten. Die Kanzlerin gab mit ihrer zu Herzen gehenden, aufrüttelnden Neujahrsansprache, in der sie den 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer hervorhob, den Startschuß. Marianne Birthler, Unterlagenverwalterin des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), eröffnete in Potsdam im Beisein von Ministerpräsident Matthias Platzeck eine Wanderausstellung über den DDR-Geheimdienst. Rainer Eppelmann, Chef der »Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«, stellte im Auswärtigen Amt am Berliner Werderschen Markt eine ebenfalls transportable Exposition vor, die in einen schmalen rechteckigen Karton von knapp einem Meter paßt, beliebig oft vervielfältigt und weltweit bestellt werden kann. Sie trägt den Titel »Von der Friedlichen Revolution zur Deutschen Einheit«. Wie weit letztere fortgeschritten ist, demonstrierte der Ostbeauftragte der Regierung, Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee, der sich vor dem Brandenburger Tor mit hundert Ost-West-Paaren ablichten und anschließend in der Akademie der Künste von anrührenden deutsch-deutschen Liebesgeschichten berichten ließ. Diese und zahlreiche andere Aktionen sowie Ansprachen erinnerten frappierend an den Schlachtruf bei der Wahl Rudolf Scharpings zum SPD-Vorsitzenden: »Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los!«
In dieser Aufbruchs- und Aufarbeitungsstimmung konnte sich auch ein namhafter Theologe nicht zurückhalten. In einer überregionalen Berliner Tageszeitung meldete er sich zu Wort und wies in einer tiefschürfenden Analyse nach: »Die DDR ist an ihren inneren Widersprüchen gescheitert.« Auch wenn diese Diagnose nicht ganz neu und auch nicht ganz vollständig ist, so ist sie doch brillant formuliert, unter anderem so: »Wer das ›Reich der Freiheit‹ verspricht und seiner Staatssicherheit alle Freiheit gibt, produziert Atemnot. Wer nicht in der Lage ist, regelmäßig Toilettenpapier vorzuhalten und Zahnbürsten auch nicht, muß an den Weichteilen seiner Bürger scheitern – von Obst und Gemüse ganz zu schweigen.« Welche »Weichteile« gemeint sind, verschweigt der Autor. Dafür teilt er mit, daß das DDR-System durch »umfassende Kontrolle permanente Angst produziert(e)«, aber »den Machtlöffel unerwartet friedlich abgab« und »eine ziemlich marode Industrielandschaft und eine ökologische Giftküche« hinterließ. Die Schuldigen an dem Desaster verschweigt er nicht. Es sind dies das »Gerontokratenkartell, jene 13 Mannen im Politbüro« und »der einst vom deutschen Generalstab ausgehaltene Uljanow-Lenin«, der immer »bedrohend zitiert (wurde), wonach eine Revolution nur so viel wert sei, wie sie sich zu verteidigen wisse«. Dadurch habe sich »systematisch ein roter Militarismus« herausgebildet.
Der Theologe, der den rot-militaristischen, an Atemnot leidenden, maroden und vergiftet untergegangenen Staat so treffend charakterisiert, ist weder, wie man vermuten könnte, der SED-Diktatur-Aufarbeiter Rainer Eppelmann höchstselbst noch der MfS-Spezialist Joachim Gauck. Auch aus der Feder ihrer Pfarrer-Amtsbrüder, der notorischen DDR-Hasser Markus Meckel, Richard Schröder und Steffen Reiche, stammt der Beitrag nicht. Verfasser ist der ob seiner differenzierten Geschichtsbetrachtung häufig gelobte und gerade deshalb nicht selten von rechts angegriffene langjährige Studienleiter der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, Friedrich Schorlemmer. Und das Blatt, das ihm die Tribüne bot, gehört nicht zum Hause Springer, sondern ist das Neue Deutschland. Mit dem ganzseitigen Artikel eröffnete die »Sozialistische Tageszeitung« im Januar eine Artikelserie, mit der »auf das ›Wendejahr‹ 1989, seine Ursachen und Folgen« zurückgeblickt werden soll. Ein gelungener Auftakt!
Besonders lobenswert ist die Tatsache, daß Schorlemmer, Mitglied der SPD, sich an den Rat des Stuttgarter CDU-Parteitages hält, das sogenannte Schürer-Dossier (s. Ossietzky 21/08) als Hauptbeweisstück für die »ökonomisch desaströse Lage« beizubringen. Gleichermaßen löblich ist es, daß er den fatalen Satz von Erich Honecker, die Mauer werde noch 100 Jahre bestehen, in Erinnerung ruft, ganz zufällig aber dessen ergänzende Erklärung – »wenn die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben« – wegläßt. Doch weitaus anerkennenswerter ist der Umstand, daß der theologische Gesellschaftsanalytiker die DDR in einem politischen Vakuum ansiedelt und der Einfachheit halber mit keiner Silbe auf die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, die deutsche Spaltung, den Alleinvertretungsanspruch der BRD und deren Wirtschaftskrieg, den Kalten Krieg, die Blockkonfrontation oder ähnliche Belanglosigkeiten eingeht. Hier zeigt sich wahre Meisterschaft.
Ach, hätte doch die Volkskammer im Herbst 89 nicht Egon Krenz, sondern Friedrich Schorlemmer zum Vorsitzenden des Staatsrates gewählt. Wie anders, wie besser wäre alles geworden. Auch sein Artikel wäre anders geworden, und der kleine Satz »Dabei dürfen freilich soziale und kulturelle Anstrengungen und Erfolge, Volksbildung oder Vollbeschäftigung nicht außer Acht gelassen werden« wäre nicht Kaschierung der Totalkritik, sondern wichtiger Bestandteil der Analyse geworden. Aber leider warf das ND, damals noch Zentralorgan der SED, 1988 Schorlemmer vor, die DDR in den Kapitalismus zurückreformieren zu wollen, und so wurde nichts aus dem Karrieresprung. Wie ungerecht, gehörte der Wittenberger Pfarrer doch in den Herbststürmen 89 neben Volker Braun, Stefan Heym, Christa Wolf, Walter Janka und anderen zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs »Für unser Land«, der sich gegen einen »Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte« und eine Vereinnahme der DDR durch die BRD wandte und dafür eintrat, die Chance zu nutzen, »in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln«.
Die Chance wurde vertan. Schorlemmer trauert ihr nicht nach, aber noch immer bezeichnet er sich als »ein Kind der DDR«. Um so verwunderlicher ist es, daß er sich im Neuen Deutschland zu solch rabenschwarzer Reminiszenz hinreißen ließ. Welcher Fürst der Finsternis mag ihn wohl geritten haben? Noch knappe zwei Monate zuvor hatte er im Freitag eine etwas andere Haltung bezogen. Hier schrieb er unter anderem: »Die Dämonisierung der DDR hat linke Zukunftsentwürfe diskreditiert ... Es gibt einen irrationalen, nachholenden Antikommunismus, eine Art Totentanz auf dem Leichnam... Wenn Bürger, welche die DDR erlebt haben (und ebenso deren Nachfahren), ein anderes Urteil über diese Zeit, diese Gesellschaft und dieses Leben ... fällen als ein abschreckend-rabenschwarzes, dann wird das in der Öffentlichkeit allzu leicht als Verklärung, als nostalgisch-beschönigende Einfärbung denunziert. Oder man wird uninformiert genannt, sofern man nicht den fest gefügten Vor-Urteilen des Forschungsverbundes SED-Staat entspricht ... Dabei bietet die SED-Herrschaft genug Material für Abschreckendes. Sie ist freilich kaum zu verstehen, ohne den Zusammenhang von 1933, 1939 und 1949 mit folgendem Kalten Krieg unter gegenseitiger Abschreckungsdrohung und Eisernem Vorhang mit dem internationalen ›Wettkampf der Systeme‹ mit einzubeziehen. Ich warne seit 15 Jahren davor, die DDR in toto zu dämonisieren, weil das genau die Gegenreaktion der Verklärung hervorrufen kann und hervorruft. Schwarzfärben führt zum Schönfärben.«
Wie wahr! Wollte Schorlemmer etwa gar mit seiner schwarz gefärbten ND-Analyse auf recht eigenwillige Weise helfen, die DDR schönzufärben? Schwerlich. Sein Beitrag trägt die Überschrift: »Der Kaiser ist nackt«. Zwangsläufig drängt sich der Verdacht auf, daß er ihn anders als in einigen seiner früheren Untersuchungen mit einem dieser famosen Nacktscanner betrachtet hat.