An der bekannten schwedischen Theaterschule in Skara machten wir in der Zeit, als das »Absurden Theater« seinen rasanten Aufstieg nahm, ein Experiment. Die Studenten hatten im dortigen Stadttheater »Die kahle Sängerin« von Eugène Ionesco gesehen und waren fasziniert, daß von dem Stück, dessen absurde Vorgänge im Einzelnen gar nicht zu verstehen seien, eine solche Wirkung ausgehe. Am Morgen nach der Aufführung kam es zu heftigen Diskussionen, woher diese Wirkung denn komme. Einig war man sich, daß die Philosophie Ionescos, nicht das Theater, sondern die Welt an sich sei absurd, hier als »erregendes Moment« wirke. Von der theatralischen Wirkung »moderner Philosophie« waren sie nicht abzubringen. Als bis zur Mittagspause keine Einigung zu erzielen war, entschlossen wir uns zu einem Experiment. Wir baten einen Studenten, der bisher nicht gerade durch Begabung aufgefallen war, sich vorzubereiten, nach der Mittagspause auf die Bühne zu kommen, und sagten ihm, es gehe um eine Konzentrationsübung. Die anderen Studenten würden vom Zuschauerraum aus verfolgen, wie lange sich jemand auf der Bühne konzentrieren könne, ohne das Geringste zu tun. Wie lange er also einfach dastehen könne, ohne etwas zu sagen, zu denken oder zu fühlen. Dazu sei es auch nötig, sich nicht zu bewegen und mit dem Gesicht keine Regung zu zeigen. Am besten, er denke – weil es ja schwer ist, überhaupt nicht zu denken – an irgend etwas, das mit der Sache nichts zu tun habe, möglichst an Alltägliches und Harmloses. Der Student versprach, sein Möglichstes zu tun. Den anderen Studenten sagten wir nichts; es war ohnehin üblich, nach der Mittagspause mit einer kleinen Vorführung zu beginnen.
Als sich alle Studenten im Zuschauerraum eingefunden hatten, zogen wir ganz langsam den Vorhang auf. Auf der Bühne stand unser Verbündeter und machte nichts. Er verzog keine Mine, er sagte nichts, er bewegte sich nicht, ja, er hatte einen absolut leeren Ausdruck im Gesicht, aber keinen besonderen, sondern wie er bei geistig abwesenden Menschen oft zu beobachten ist. Es konnte also keine Rede davon sein, daß er das nichts etwa gestaltete, es war tatsächlich nichts vorhanden. Beim Aufgehen des Vorhangs verstummten die lauten Unterhaltungen. Es wurde mucksmäuschenstill. Angespannt verfolgte jeder, was auf der Bühne vor sich ging. Nachdem etwa vier Minuten lang nichts vorgegangen war, begann einer im Zuschauerraum zu lachen, da er meinte, etwas irrsinnig Komisches zu sehen. Die anderen fielen ein. Unser Verbündeter auf der Bühne aber schlug sich wacker. Er machte auch jetzt, als er solchen »Erfolg« hatte, nichts. Denn er glaubte ja, man wolle ihn prüfen, wie lange er nichts machen könne. Im Zuschauerraum wurde es wiederum still. Diesmal hielt die gespannte Stille etwa zehn Minuten an. Nach fünfzehn Minuten schlossen wir den Vorhang. Das Experiment war beendet.
Zur Auswertung begaben wir uns alle in den Zuschauerraum, auch unser Verbündeter, den wir inzwischen aufgeklärt hatten. Unsere Frage an die Zuschauer: Was ist in den fünfzehn Minuten auf der Bühne vor sich gegangen? Das Resultat war verblüffend: Sie hatten ungeheuer viel gesehen. Ja, die verschiedensten Zuschauer hatten das Verschiedenste gesehen. Einig war man sich über den »tollen« Anfang: Der Student auf der Bühne habe großartig die Anspannung gezeigt, mit der er etwas geplant habe. Einige wollten sogar gesehen haben, was er geplant habe: Einen Asozialen darstellend habe er geplant, nunmehr zu resignieren und sich der Polizei auszuliefern. Dann sei er innerlich unruhig geworden, weil er seinen Plan bereut habe. Und wie er dann, ohne sich zu regen, mit eiserner Konsequenz das Warten auf die Ankunft der Polizei fast zehn Minuten durchgehalten habe, fand man großartig.
Streit gab es, warum gelacht worden war. Einige behaupteten, wegen der Buster-Keaton-Miene, mit der er zum Ausdruck gebracht habe, wie sehr ihm »alles am Arsch vorbeigeht«. Andere wollten gesehen haben, wie er eigentlich immerzu etwas sagen wollte, aber keinen Ton über die Lippen brachte. Das fanden sie urkomisch. Ein Mädchen widersprach. Sie habe die Tragik des Menschen in der Industriegesellschaft gesehen.
Als wir unseren Verbündeten baten, zu sagen, was er »gespielt« habe, gab es merkwürdige Reaktionen: Die meisten Schüler waren zornig. Sie fühlten sich hereingelegt. Einige lachten und meinten, jetzt wüßten sie, wie sie bei der nächsten Prüfung durchkämen. Einige aber waren auch nachdenklich. Wir wollten uns vertagen und erst am nächsten Tag die Auswertung dieses merkwürdigen Experiments fortsetzen. Wir sagten noch, daß sie eben Zeuge von etwas Seltenem geworden, das jeder nur einmal erleben könne (nämlich nur, wenn er es nicht wisse): Sie hätten das Theater selbst erlebt. Obwohl das, was sie gesehen hätten, noch nicht Theater gewesen sei (schließlich habe der Schauspieler noch nicht gespielt), hätten sie doch durch ihr Verhalten als Zuschauer eine entscheidende Frage beantwortet, die für sie bis dahin vielleicht überhaupt keine Frage gewesen sei, nämlich wer im Theater eigentlich spiele. Hätten sie noch bis zur Mittagspause, ohne zu überlegen, geantwortet: der Schauspieler, sei diese Antwort jetzt nicht mehr so einfach: Denn gerade der Schauspieler habe nicht gespielt.
Die Diskussion um das Experiment hielt uns fest bis tief in die Nacht. Als es schon wieder Morgen wurde, war uns, als hätten wir – Lehrer und Studenten – etwas Wesentliches über Theater erfahren. Sicher nichts ganz Neues. Wer kennt nicht den Satz Brechts, daß es zwei Künste zu entwickeln gelte, die Schauspielkunst und die Zuschaukunst? Doch wenn wir täglich unsere Arbeitsstätten betreten, um zu proben, sind wir zwar bereit, alles infragezustellen, was auf der Bühne geschieht, die Bühne selbst aber nehmen wir hin wie etwas Gegebenes. Wir vermeiden den Naturalismus auf der Bühne, unser Verhältnis zur Bühne aber ist ein naturalistisches. Nur weil wir uns jeden Tag mit Theater beschäftigen, nur weil der Schauspieler eine Rolle einstudiert, um sie vor einem Publikum, das er oft nicht einmal kennt, zu spielen, nur weil das Publikum meistens still auf seinen Plätzen sitzt und ab und zu »reagiert«, kamen wir zu der festen falschen Ansicht, Theater werde allein von Theaterleuten gemacht. Obwohl wir gerade alltägliche Gewohnheiten bekämpfen wollen, gewöhnten wir uns selbst an den alltäglichen Ablauf des Theaters. Wir meinten, daß wir als Theaterleute die Zuschauer überhaupt erst einmal aus ihrem »passiven Dasitzen« herausbringen müssen. Und um die Zuschauer in Bewegung zu bringen, griffen wir zu allerlei Maßnahmen: Wir sprengten die Konfrontation der Bühne mit dem Zuschauerraum und verlegten die Bühne tief unter die Zuschauer. Wir ließen ganze Sitzreihen von Zuschauern auf die Bühne rollen, um sie an unserem Spiel zu »beteiligen«. Wir gaben Zettel aus und ließen abstimmen. Wir »demokratisierten« die Theater und veranstalteten Foyergespräche nach den Vorstellungen und Versammlungen, in denen hauptsächlich Zuschauer das Wort ergriffen. Ja, wir planten schon, an wichtigen Stellen des Spiels auf der Bühne einfach abzubrechen, um den Zuschauer ganz unvorbereitet in Diskussionen um den weiteren Verlauf zu verwickeln. Solche Maßnahmen konnten den Theaterbetrieb manchmal sogar kräftig beleben. Wir unterließen nur eins: zu fragen, wie denn der Zuschauer am Vorgang des Theaterspiels selbst aktiv beteiligt ist. Also nicht nur hinterher oder vorher, nicht neben oder hinter der Bühne, sondern auf der Bühne während der Vorführung selbst. Und wie sich diese Beteiligung von anderen Veranstaltungen unterscheidet, zum Beispiel von Diskussionen, Versammlungen, Gesprächen, die sicher wichtig sind, aber doch Theater nur ergänzen können, nicht ersetzen. Kurz: welche Rolle der Zuschauer im Theater wirklich hat. Unser Experiment gab eine verblüffende Antwort:
Der primäre Spieler im Theater ist nicht der Schauspieler, sondern der Zuschauer.
Von Manfred Wekwerth erscheint im Februar im Kai Homilius Verlag »Mut zum Genuß – ein Handbuch für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter«