Anton Schlecker versteht die Welt nicht mehr. Daß die Gewerkschaft ver.di seiner Drogeriemarktkette mit ihren erfolgreichen Geschäftsmodellen immer wieder in die Quere kommen und in das freie Unternehmertum eingreifen will, daran ist er gewöhnt. Vor elf Jahren haben die Gewerkschafter es sogar so weit gebracht, daß er und seine Frau zu zehn Monaten Haft auf Bewährung sowie einer Million Mark Geldstrafe verurteilt wurden, weil man ihrem Konzern Betrug in der Tarifgestaltung für die Angestellten nachweisen konnte. Auch jetzt wieder, in der Krise, wo Schlecker sich gezwungen sieht, die Firma umzustrukturieren, machen die Gewerkschafter Ärger, und sich »links« aufspielende Politiker fordern gegen sein Geschäftsgebaren gesetzliche Maßnahmen. Seit neuestem aber üben sogar sich »christlich« nennende Politiker an seinem Imperium Kritik. Schlecker ist empört: »Es muß befremdlich erscheinen, daß Politiker, deren Parteien seit langem stets die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse gefordert und gesetzlich gefördert haben, nun hier – offenkundig aus populistischen Motiven – mit einzustimmen scheinen«, hieß es in einer Presseverlautbarung des Unternehmens. Nicht nur der selbsternannte »Arbeiterführer« Jürgen Rüttgers und sein Arbeitsminister Karl-Josef Laumann aus Nordrhein-Westfalen (beide CDU) verlangen ein Eingreifen des Staates, auch die neue Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen drohte mit Überprüfung der Praktiken bei Schlecker. Soll denn Erfolg am Markt keine Rolle mehr spielen? Schließlich hat Anton Schlecker mit seiner Frau in Jahrzehnten von seinem Heimatort aus, dem württembergischen Ehingen, die größte Drogeriemarktkette Europas aufgebaut! Selbst im Krisenjahr 2009 ist der Umsatz nach Firmenangaben nicht eingebrochen.
Um trotz der anhaltenden wirtschaftlichen Turbulenzen weiter erfolgreich auf dem Markt zu agieren, hat Schlecker seit einem Jahr sein Umstrukturierungsprogramm eingeleitet: Bisherige Filialen, die nicht genügend Umsatz und Gewinn bringen, werden geschlossen, den MitarbeiterInnen wird »betriebsbedingt« gekündigt. Zugleich baut der Konzern eine neue Vermarktungskette unter dem Namen »Schlecker XL« auf. Das Verkaufspersonal holt man sich vom »freien Markt« als Leiharbeiter; dabei kann man vorwiegend auf die gekündigten, erfahrenen Mitarbeiterinnen zurückgreifen. Den Deal vermittelt die Personalverleihfirma »Meniar« (»Menschen in Arbeit«). »Meniar« wird nach Gewerkschaftsangaben von einem ehemaligen Geschäftsführer Schleckers geleitet und ist nach ver.di-Recherchen wohl eine Schleckersche Scheinfirma. Der Clou dabei: Die Lohnkosten können um die Hälfte gesenkt werden; lag der mit ver.di ausgehandelte Branchen-Tariflohn bisher bei etwa zwölf Euro, müssen die Beschäftigten sich jetzt mit 6,78 Euro brutto und weniger Urlausanspruch zufriedengeben; so hat es »Meniar« mit der obskuren »Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften« ausgehandelt.
Ist doch wunderbar: Schlecker wird noch billiger anbieten und seinen Marktanteil sogar verbessern können. Die entlassenen Mitarbeiterinnen brauchen nicht lange beim Arbeitsamt Anträge auszufüllen, sie können ganz schnell wieder in Arbeit kommen – und Arbeit ist doch wohl die Hauptsache, oder? Selbst die SPD hatte ja mit der großflächig plakatierten Parole »Arbeit! Arbeit! Arbeit!« schon 1998 die Wahl gewonnen. Daß die Wiedereingestellten jetzt mit der Hälfte auskommen müssen, ist eben ihr Beitrag, damit »wir alle« die Krise ganz schnell überwinden. Und schließlich erhalten sie in der Regel immer noch mehr als bei Hartz IV, oder sie können doch, sofern Familienmitglieder mit zu versorgen sind, bei der Arge eine Aufstockung aus öffentlichen Mitteln beantragen.
Die neue Bundesarbeitsministerin hatte in der ARD-Sendung Anne Will am 10. Januar erklärt: »Bei Schlecker gucken wir genau hin, ob da Mißbrauch betrieben wird oder ob Gesetze umgangen werden.« Notfalls müßten »Schlupflöcher geschlossen werden«. Auch könne einer Zeitarbeitsfirma »die Lizenz von der Bundesagentur für Arbeit entzogen werden … Da gibt es also auch Mechanismen, wir sind ja nicht Wilden Westen.« Vielleicht doch?
Schlecker hat zwar inzwischen verlauten lassen, er werde sich von »Meniar« trennen. Insofern zeichnet sich ein erster Erfolg der ver.di-Kampagne ab. Ansonsten beruft sich Schlecker auf den Gesetzestext, wonach Leiharbeitsverträge durchaus zu wesentlich niedrigeren Tarifen abgeschlossen werden können, sofern in der Branche nur irgendein entsprechender Tarifvertrag vorliegt. Die »Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften« gilt zwar allgemein als »Gelbe Gewerkschaft«, wurde aber bisher nicht verboten. Schleckers Haus-Juristen brauchen nur den Namen »Meniar« und den Geschäftsführer auszutauschen. Oder es ließe sich eine andere Leiharbeitsfirma finden oder aufbauen, womit sogar zusätzliches Geld verdient werden könnte.
Die Gewerkschaft ver.di fürchtet zu Recht, daß die Konkurrenten auf dem Drogeriemarkt, darunter dm oder Roßmann, bald folgen werden und ebenfalls mit Lohndumping ihre Marktanteile verteidigen wollen. Ähnliches läuft in vielen anderen Branchen: entweder »Zugeständnisse« bei den Lohnkosten oder »betriebsbedingte Entlassungen« (wegen drohender Insolvenz) mit Teil-Ersatz durch Leiharbeiter. Hier herrscht das altbekannte Ritual kapitalistischer Krisenbewältigung: Lohnsenkung und Sozialdemontage. Kleinere oder zögerliche Betriebe werden niederkonkurriert oder billig aufgekauft (s. das »Opeldrama« oder »VW übernimmt Karmann«). Fressen oder Gefressenwerden. Auf das Fußvolk kann da keine Rücksicht genommen werden, ganz wie im Wilden Westen. Allerdings will es bisher nicht gelingen, die Brutalität im Kapitalismus in der Art der Western-Romantik zu verklären, obwohl die Thinktanks der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« schon eifrig darum bemüht sind.