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Wie man Geschichte aufarbeitet  (Ralph Hartmann)

Mir reicht’s! Seit 20 Jahren wird die Geschichte der DDR »aufgearbeitet«: der Unrechtsstaat, die Mauer, die Stasi, ihre inoffiziellen Mitarbeiter, die Politbürokratie, das Staatsdoping und so manches mehr. Wo aber bleibt die »Aufarbeitung« der BRD-Geschichte? Die Front der DDR-»Aufarbeiter« ist vielgestaltig und breit. Sie reicht von der bundesdeutschen Staatsspitze bis zu Rainer Eppelmanns »Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«, von führenden Vertretern der Linkspartei bis zum Genossen Schulz in Kleinkleckersdorf.

Doch vielen genügt das noch lange nicht. Auch Bundespräsident Horst Köhler ist nicht so recht zufrieden und ruft deshalb wieder und wieder zu einer »verstärkten Aufarbeitung der DDR-Geschichte« auf, wobei er stets mit verbalen Schmuckelementen wie »Unrechtsstaat«, »Unfreiheit« »Heimtücke der SED-Diktatur« und Ähnlichem hantiert. Als er im Spätherbst des vergangenen Jahres im Schloß Bellevue Hubertus Knabe als »einen der konsequentesten Vertreter der Interessen der Opfer der SED-Diktatur« und andere »Gegner des SED-Unrechts« mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik auszeichnete, sagte er voll Stolz: »Mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte haben wir direkt nach der Wiedervereinigung begonnen.« Dem ist nicht zu widersprechen. Aber wie steht es um die »Aufarbeitung« der Geschichte der BRD? Ist es nicht endlich an der Zeit, beide deutsche Staaten, die im Grundlagenvertrag von 1972 erklärten: »Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entwickeln normale und gutnachbarliche Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung«, auch bei der »Aufarbeitung« gleichberechtigt zu behandeln?

Ist es etwa ein »aufgearbeitetes« Allgemeingut, daß Konrad Adenauer, dessen Porträt das Arbeitszimmer der Bundeskanzlerin ziert, eine entscheidende Rolle bei der Spaltung Deutschlands spielte, daß in seiner ersten Regierung mehr NSDAP-Mitglieder als in der ersten Reichsregierung unter Adolf Hitler saßen, daß sein Kanzleramtschef Hans Globke Hauptverfasser des offiziellen Kommentars der Nürnberger Rassen- und Blutgesetze zur Ermordung von Millionen Juden war, als rechte Hand Himmlers auf der Hauptkriegsverbrecherliste der Alliierten stand und als rechte Hand des Kanzlers durch seine Personalentscheidungen die personelle Zusammensetzung von Führungsgremien der BRD auf Jahrzehnte maßgeblich bestimmte, und daß die Herren der Großindustrie und der Hochfinanz, die Hitler gefördert und als Wehrwirtschaftsführer gestützt hatten, an den Schalthebeln der Macht blieben? Ist es etwa »aufgearbeitet«, daß Kommunisten und Antifaschisten in der Bundesrepublik jahrzehntelang verfolgt und drangsaliert wurden, nicht selten auch vor den selben Staatsanwälten und Richtern standen, die sie im Nazi-Reich tyrannisiert hatten, und daß mehr als eine Million Bundesbürger vom Bundesverfassungsschutz und anderen Dienste bespitzelt, überprüft und bei anzuzweifelnder Staatstreue mit Berufsverbot bestraft wurden? Ist denn schon ein einziges Mal untersucht worden, welches Ausmaß und welche Folgen die bundesdeutsche Unterstützung für die massenmörderische US-Aggression gegen Vietnam, für das Apartheid-Regime in Südafrika, für die Pinochet-Diktatur und andere Putschisten-Cliquen in aller Welt hatte? Hat sich jemals eine offizielle westdeutsche Institution bemüht, den Schaden zu ermitteln, den die Bundesrepublik den Bürgern der DDR durch die Hallstein-Doktrin (Alleinvertretungsanspruch), Spionage- und Agententätigkeit, Handelskrieg, Abwerbung von Fachkräften, Verweigerung der Beteiligung an den Reparationszahlungen nach dem Zweiten Weltkrieg zugefügt hat?

Genug der Fragen, die meisten zielen auch auf Vorgänge, die relativ weit zurückliegen, allerdings häufig nicht weiter als die Unterschrift eines 17Jährigen unter eine Bereitschaftserklärung zur Zusammenarbeit mit dem MfS, um die jüngst in Brandenburg und im ganzen Land gelärmt wurde, als handelte es sich um die Tat eines rückfällig gewordenen Gewaltverbrechers. Aber auch in der jüngeren Vergangenheit gibt es eine endlose Kette von Vorgängen und Taten, die eine »Aufarbeitung« bitter nötig hätten. Sie reicht von der groben Einmischung der Regierung und der Parteien der Bundesrepublik in die »ersten freien und demokratischen Wahlen« zur DDR-Volkskammer vom März 1990, die selbst Egon Bahr als die »schmutzigsten Wahlen, die ich je in meinem Leben beobachtet habe« bezeichnete, über den gesamten Verlauf der Einverleibung der DDR, der Herstellung einer Einheit, die laut Günter Grass »von einer historisch bisher beispiellosen Enteignung und Bevormundung der ostdeutschen Bevölkerung« begleitet war, bis zur mit unsäglichen Lügen begründeten Teilnahme der Bundeswehr am verbrecherischen Terrorkrieg gegen Jugoslawien.

Warum ruft der Bundespräsident nicht zur »Aufarbeitung« dieser Aggressionsteilnahme und der Geschichte des Anschlusses der DDR an die BRD auf? So aufrichtig und menschenfreundlich, wie er sich darstellt, könnte er hier mit gutem Beispiel vorangehen und seine Rolle bei der Deindustrialisierung Ostdeutschlands und der Pauperisierung großer Teile seiner Bevölkerung »aufarbeiten«. Schließlich war er als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium für die Rechts- und Fachaufsicht über die Treuhand verantwortlich und hat deren Chefin Birgit Breuel und ihren Mannen den Rücken freigehalten. Nicht zufällig hat die Ex-Treuhandchefin ihn überschwenglich gelobt: »Horst Köhler war unser bester Partner …« Und der Präsident bedankte sich artig für das Lob. Statt die Untaten der Treuhand und seine Rolle »aufzuarbeiten«, gab er für Frau Breuel zu deren 70. Geburtstag – wie Merkel für Ackermann – ein Essen, in dessen Verlauf er ihr und »allen ihren Weggefährten bei der Treuhandanstalt ... für ihre erfolgreiche Arbeit« dankte. Er ist eben selbstlos, unser Bundespräsident, und denkt auch bei der »Aufarbeitung« an sich selbst zuletzt.

So wird die Geschichte verfälscht. Diese einseitige »Aufarbeitung« reicht – nicht nur mir.