Nein, die Nazis können den Reichstag am 27. Februar 1933 nicht angezündet haben. Wer wüßte das besser als der Pressechef im NS-Außenministerium, SS-Obersturmbannführer und Ministerialdirigent Dr. Paul Karl Schmidt? Schon 2005 habe ich in meiner Studie »Paul Carell« gezeigt, daß Schmidt dem Spiegel und dessen offiziellem Autor Fritz Tobias zu der Reichstagsbrandserie 1959/60 als Ghostwriter diente und die vorbereitende PR dafür lieferte. Schmidt alias Paul Carell alias P. C. Holm hatte die These lanciert, die schon 1957 im Spiegel und 1958 in der Welt am Sonntag stand: der holländische Wirrkopf Marinus van der Lubbe sei der Alleintäter beim Reichstagsbrand gewesen.
Daß Schmidt das Manuskript von Fritz Tobias redaktionell betreute, hatten schon andere (Bahar, Kugel, Köhler) festgestellt. Ich konnte nun herausfinden und belegen, daß Schmidt fast drei Jahre vor Tobias‘ Serie, nämlich am 16. Januar 1957, in einem eigenen Artikel die These vom Alleintäter van der Lubbe in eben diesem Nachrichtenmagazin vertreten hatte. Von einer nur kurzfristigen, marginalen Tätigkeit Schmidt-Carells in Sachen Reichstagsbrand beim Spiegel, wie dessen für Zeitgeschichte zuständiger Redakteur Klaus Wiegrefe am 9. April 2001 in seinem Artikel »Flammendes Fanal« abwiegeln wollte, konnte also keine Rede mehr sein.
Schmidt lancierte die These vom Alleintäter van der Lubbe in der neunten Folge seiner Serie »Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt!«, die sich mit dem Reichstagsbrandprozeß und dem Todesurteil gegen van der Lubbe befaßte, indem er mindestens drei zentrale Argumente der späteren Reichstagsbrandserie von Fritz Tobias vorwegnahm: erstens den angeblich rechtsstaatlichen Charakter des Reichstagsbrandprozesses und der ihm vorausgehenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, zweitens die Behauptung, der beim Prozeß apathisch wirkende Angeklagte van der Lubbe sei keinesfalls unter Drogen gesetzt oder sonstwie manipuliert worden, drittens der 1933 ermittelnde Kriminalkommissar Walter Zirpins sei absolut integer und glaubwürdig; keine Rede von dessen Einsatz als SS-Sturmbannführer bei der »Endlösung der Judenfrage« in den Ghettos Warschau und »Litzmannstadt«. Ein Jahr später, am 23. Februar 1958, erschien dann die analoge Argumentation Schmidts mit ganz ähnlicher Wortwahl unter seinem nach »Paul Carell« am zweitliebsten verwendeten Pseudonym »P.C. Holm« in Axel Springers Welt am Sonntag.
Nun sorgt eine im Dezember 2009 veröffentlichte, auf breitester Quellenbasis verfaßte und ungewöhnlich spannend zu lesende Dissertation des gelernten Journalisten und Sozialwissenschaftlers Christian Plöger dafür, daß auch die letzte Bastion der Rechtfertigungsstrategie der Spiegel- und Welt-Redaktion zur Entschuldung der Zusammenarbeit ihrer Blätter mit Schmidt/Carell/Holm fällt, nämlich die Behauptung, dessen Judenmord-Propaganda sei Augstein, Tobias und Springer lange Zeit unbekannt geblieben. So hatte Der Spiegel in dem erwähnten Artikel vom 9. April 2001 behauptet: »Tobias kannte Schmidts üblen Vermerk von 1944 nicht.« Und Welt-Redakteur Sven Felix Kellerhoff weiß 2008 in seinem Buch »Der Reichstagsbrand« über die Voraussetzungen für den Erfolg Schmidts bei Augstein und Springer zu berichten: »Paul Karl Schmidt war seit 1940 Pressechef im Auswärtigen Amt gewesen und hatte teilweise üble antisemitische Aktennotizen verfertigt. Doch weil sie nach Kriegsende unbekannt blieben, konnte er sich als Journalist etablieren – beim Springer-Verlag und eben auch beim Spiegel.«
Bislang ging die Forschung davon aus, daß Schmidts »Notiz für Herrn Staatssekretär« vom 27. Mai 1944 erstmals im August 1958 in einigen Tageszeitungen erwähnt worden sei. Das wäre dann nach Schmidts Spiegel-Artikel und nach Beginn der Zusammenarbeit mit Fritz Tobias 1957 gewesen. 1944 hatte Schmidt vorgeschlagen, den Budapester Juden vor der Deportation Sprengstoffe und Waffen unterzuschieben und dann umgehend eine Razzia durchzuführen, um die Opfer als kriminelle Täter präsentieren zu können. Nun hat Plöger herausgefunden, daß die Welt darüber bereits in ihrer Ausgabe vom 7. August 1947 unter der Schlagzeile »Presse-Schmidts Rolle« umfassend berichtet hatte. Der amerikanischen Anklagevertretung sei mit Schmidts Aktennotiz an den Staatssekretär Steengracht vom 27. Mai 1944 »ein besonders schwer belastendes Dokument in die Hände gefallen«. Dann zitierte Die Welt Schmidts infame Inszenierungsvorschläge für die Deportation der Budapester Juden im Wortlaut. Rudolf Augstein, Fritz Tobias und Axel Springer konnten sie am 7. August 1947 in dieser großen Tageszeitung lesen.
Christian Plöger: »Von Ribbentrop zu Springer: Zu Leben und Wirken von Paul Karl Schmidt alias Paul Carell«, Tectum-Verlag, 478 Seiten, 34.90 €