Alfred Matusche war Prolet und Poet. Ordnungsmensch und Chaot. Kommunist und Bohèmien. Dramatiker und Theatermensch ohne Theater – die Theater mußten zu ihm kommen, dann kam er ins Theater. Die Verlage mußten kommen, dann kam er in den Verlag. Zumindest zu dem, der ihm gerade Geld gab. Und dann brachte er ein Manuskript, denn der Verlag wollte ein Buch machen. Doch es ging nicht voran und konnte nicht vorangehen, solange der nächste Teil des Manuskripts nicht vorlag. Dann gab es auch kein Geld. Er brachte das Manuskript und bekam zumindest die vertraglich vorgesehene Rate. Die war spätestens nach drei Tagen weg. Wo war sie? Bei Freunden, die gerade kein Geld hatten. Verschenkt. Dann kam er wieder in den Verlag. Hatte Hunger. Ich – oder der Cheflektor oder ein anderer – ging mit ihm essen. Er bat um Geld. Was sollten wir tun? Die nächste Rate wäre wieder nach drei Tagen weg gewesen! Also teilten wir zu. Er bekam eine aus den ihm zustehenden Vertragsraten errechnete Summe monatlich zugeteilt, wie ein kleines Gehalt. Das mußte er sich bei unserer Kasse abholen. Es war schnell verbraucht, doch blieb seine selbstverschuldete Not kleiner. Irgendeiner von uns ging immer mit ihm essen.
Wenn er satt war, verschwand er. Wohin, wußte keiner. In der gemeldeten Wohnung war er fast nie anzutreffen. Aber er arbeitete. Er schrieb. Pünktlich zum Vertragstermin lieferte er nie. Doch wenn er lieferte, dann gute Texte, zumeist Theaterstücke. Fast immer unvollständig. Wie seine wenige Lyrik auch. So kamen die Stücke allmählich in unsern Henschelverlag, auf meinen Schreibtisch – wir arbeiten emsig miteinander – und dann in die Welt.
Doch etwas hatte sich schon vorher begeben: 1955 war ich aus Wien zur Schiller-Feier mit Thomas Mann nach Weimar gekommen und dann nach Berlin gefahren, um vor allem Brechts Theater zu sehen. Ernst Fischer hatte ich zu verdanken, daß ich an einer Weimarer Gesprächsrunde mit Brecht teilnehmen durfte. Da ging es um dessen dramatisches Werk, doch auch um sozialistisches Theater, seine Anfänge, Versuche und Möglichkeiten. Auf meine Frage, was man sich außer seinem Berliner Ensemble ansehen solle, nannte er einige Namen, verwies vor allem auf einen damals »jungen« Dramatiker namens Alfred Matusche, der immerhin 46 Jahre alt war, aber eben als Dramatiker jung, wie BB betonte. Der sei nicht nur ein Stückeschreiber, sondern ein Dichter. Er verwies auf »Die Dorfstraße«, die damals gerade im Deutschen Theater uraufgeführt worden war.
Ich sah die Inszenierung von Hannes Fischer, es war meine erste Begegnung mit diesem Theaterdichter. Seither sah ich alles, und später, in den Sechzigern, wurde er mein Autor. Da war ich Lektor der darstellenden Künste im Henschelverlag. Und »Die Dorfstraße« eröffnete 1971 den Matusche-Band in der Reihe »Dramatiker der DDR«.
Einmal beging ich einen schlimmen Fehler: Das maschinengeschriebene Manuskript entsprach in keinem Punkte den vom Verlag geforderten Bedingungen, sondern war ein vielfach überarbeitetes. Das durfte nach geltenden Regeln nicht angenommen werden. Ich nahm es nicht an. Matusche ging mit seinem zerfledderten Papier und ward nicht mehr gesehen. Die vorgesehene größere Ausgabe verzögerte sich um Jahre.
Irgendwann gelang es mir, ihn zu besänftigen, zumal Armin Stolper als De-facto-Herausgeber das Seine dazutat. So konnte der Band 1971 erschienen. Er enthielt: »Die Dorfstraße«, »Der Regenwettermann«, »Das Lied meines Weges« (das autobiografisch stärkste Stück), »Van Gogh« (sein bestes, ebenfalls autobiografisch im Sinne der Identifikation mit diesem so einsamen Künstler) sowie »Kap der Unruhe«.
Fast alle wurden nach und nach von DDR-Theatern aufgeführt: »Van Gogh« im damaligen Karl-Marx-Stadt durch seinen Freund Peter Sodann, der auch die Titelrolle spielte, »Kap der Unruhe« unter anderem an der Berliner Volksbühne durch Christoph Schroth. Henschel bereitete einen weiteren Band mit den späteren Stücken vor. Er enthielt »Welche von den Frauen?«, »Die Nacht der Linden«, »Prognose« und »An beiden Ufern«, Werke, in denen sich die großen sozialen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts im Individuum und zwischen den Individuen abspielen. Alle Stücke haben tragfähige Fabeln, die erlebbares Bühnengeschehen ermöglichen, statt einfach Bild an Bild zu reihen, wie heute üblich. Die Ausgabe kam 1979 heraus, postum.
Die Bühnen mißachten dieses Erbe inzwischen. Vielleicht werden spätere Generationen Matusche wie Weiland Kleist, Büchner oder auch Barlach für sich entdecken, und die kritisch akklamierende Gesellschaft wird staunend sagen: »Ach ...! Wie war das möglich?«
Einer hat das nun schon im Jahre 2009 gewagt: Der einstige Leipziger, nun Wiesbadener Theaterwissenschaftler Gottfried Fischborn hat Matusches Dramen im Verlag André Thiele in Mainz herausgegeben, so, wie sie unseren Henschel-Ausgaben vorlagen. Dazu eine Festschrift zum 100. Geburtstag mit dem Titel »Das Lied seines Weges«. Die meisten Autoren sind solche, die sich schon seinerzeit um AM bemüht haben, Schauspieler, Regisseure, Kritiker. Herausragend der Beitrag von Heinar Kipphardt über die Zusammenarbeit an der Uraufführung der »Dorfstraße«.