Die britische Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten verfolgt weitreichende Ziele. Regierungschef David Cameron hat sich fest vorgenommen, das »New Labour« abspenstig gewordene Königreich in eine »Big Society« zu verwandeln. Dieser »Plan von atemberaubender Reichweite« (Wall Street Journal) soll das Land zu einem von staatlichen Leistungen und Diensten möglichst unabhängigen Dorado des Kapitals machen (s. die Ossietzky -Hefte 19, 21 und 23/10).
»Shopping: The feelbad factor« titelte am 10. Januar der Guardian. Seit Neujahr 2011 ist die Mehrwertsteuer in Großbritannien um 2,5 Prozent auf den nun gültigen Satz von 20 Prozent angehoben worden, und das wird vor allem für die mehr als 13 Millionen als arm eingestuften Briten – immerhin ein Fünftel der Bevölkerung – eine nochmalige Verschlechterung ihrer Daseinsbedingungen nach sich ziehen. Auch die untere und die mittlere Mittelschicht, wie man sie auf der Insel nennt, werden infolge der Steuer- und Gebührenerhöhungen sowie zunehmender Inflation (derzeit 4,7 Prozent) und massiven Stellenabbaus immer kürzer treten müssen. Zwar sind die Einkaufsmeilen – »High-Streets« – im ganzen Land noch viel frequentiert, weil die Schlußverkaufsangebote der Einzelhandelsketten locken.
Aber es mehren sich die Anzeichen, daß es in den Läden demnächst entschieden ruhiger zugehen dürfte. Ketten wie HMV, Mothercare, Alexon und andere mehr planen bereits Ladenschließungen und geben Gewinnwarnungen. Selbst der immerzu optimistisch auftretende Regierungschef Cameron mußte gegenüber der BBC zugeben: »Wenn Sie den Wagen auftanken und 1,30 Pfund pro Liter zahlen müssen, dann ist das für die Familien landauf, landab unsäglich schmerzlich.«
Die disponiblen Einkommen der Briten werden 2011 durchschnittlich um mehr als 500 Pfund geringer ausfallen als im Vorjahr. Auf die geringverdienenden Haushalte kommen allerdings noch größere Einschränkungen zu, wie eine neue Studie der Organisation »Save the Children« belegt. Arme Familien sind demnach mit einem »poverty premium«, einer Art Strafzuschlag für die Lebenshaltungskosten, konfrontiert, der seit 2007 um satte 20 Prozent auf die Summe von nun jährlich 1300 Pfund gestiegen ist. Dieser Zuschlag bildet sich aus den höheren Kosten, die ihnen durch teure Vorauszahlungsforderungen von Energieversorgern, schwere Zinslasten auf Kontoüberziehungen und »smartcards« sowie für weit überdurchschnittliche Versicherungsprämien entstehen.
Allein ein Fünftel der Extrakosten entsteht durch den Energiebezug (Strom, Öl und Gas), für den die armen Familien jährlich 1.135 Pfund, die finanziell besser gestellten lediglich 880 Pfund zahlen müssen. In England gibt es in vielen Wohnungen »electricity meter«, also Geräte, die, bevor sie Strom abgeben, erst mit Geld gefüttert werden müssen. Zur Zeit leben rund fünf Millionen Briten in sogenannter »fuel poverty« und geben mehr als zehn Prozent ihres Einkommens nur für die Heizungskosten aus. Die Familien, die über kein Bankkonto verfügen, werden, wenn sie die in England noch üblichen Schecks einreichen, extrem benachteiligt. Für das Einlösen eines auf 200 Pfund lautenden Schecks zahlen sie eine Gebühr von zwölf Pfund. Auch dringend benötigte Haushaltsgegenstände, etwa einen Herd, lassen sich die »doorstep lenders« (Kredithaie) fürstlich bezahlen – ein mit 239 Pfund ausgezeichnetes Gerät kostet am Ende 669 Pfund. Und weil die armen Familien zumeist in Gegenden mit höherer Kriminalitätsrate leben müssen, zahlen sie durchschnittlich 48 Prozent mehr für die Auto- und 93 Prozent mehr für die Hausratversicherung. Kurz, die ärmeren Haushalte und nicht zuletzt die vielen Kinder, die in ihnen aufwachsen, werden nicht nur gesellschaftlich skandalös benachteiligt, sondern auch noch schamlos ausgebeutet.
Während die meisten Briten gerade ihre Gürtel schmerzvoll enger stellen, freuen sich die Banker im Londoner Finanzzentrum darauf, im Februar ein belebendes Bad im gerade angekündigten Geldregen zu nehmen. In der City ist jedenfalls von der Finanzkrise und den Geldspritzen, die von der Regierung hilfreich gewährt wurden, keine Rede mehr. Vielmehr lautet die Frage, wie hoch die Boni für die Geldhändler sich summieren werden – um die sieben Milliarden Pfund (8,4 Milliarden Euro) sollen es wohl mindestens sein. Eine gute Nachricht für die Hersteller von Luxusyachten, -limousinen und -uhren, gewiß. Sie freuen sich darüber, daß Englands Reiche reich bleiben und bald noch reicher sind. Während Gewerkschaftschef Len McCluskey die »Kultur der Maßlosigkeit« anprangert, hält sich Regierungschef Cameron bedeckt. Die Banken dürften nicht zu den »einzigen Sündenböcken« für die Finanzkrise gemacht werden, wiegelt er ab und deutet zugleich an, daß er seine im Koalitionsvertrag mit den Liberaldemokraten verankerte Verpflichtung zu »harten Maßnahmen gegen übermäßige Boni« gern eintauschen möchte. Gegen was, ist keine Geheimnis: gegen die vielbeschworene »größere Transparenz« der Finanzinstitute.
Von einer »Abzockerinitiative«, wie sie zur Zeit im Schweizer Parlament beraten wird, sind die Briten offenbar noch Lichtjahre entfernt. Ganz zu schweigen von der »1:12-Volksinitiative« der Schweizer Jungsozialisten, die eine maximale Spanne von eins zu zwölf zwischen tiefstem und höchstem Lohn in einem Unternehmen in der Verfassung verankern will. Mehr als 125.000 Unterschriften haben die Jusos (»Abzocker, zieht euch warm an!«) bereits bekommen. Erste Reaktionen aus den Banktürmen gibt es auch. Credit Suisse hat gerade die Obergrenze für bar auszuzahlende Boni von 125.000 auf 50.000 Franken gesenkt (und zahlt den Rest über vier Jahre gestreckt aus). Das Lohnniveau, das verdanken wir den Schweizer Initiativen, ist zweifellos ein Thema für die gesamte Bevölkerung, zudem muß die Frage, ob die exorbitant hohen Managergehälter überhaupt gerecht sind, endlich ins Zentrum der Debatte gerückt werden. Von David Cameron sollte das allerdings niemand erwarten; er will sich beim Finanzkapital gewiß nicht unbeliebt machen.