Noch bis Ende Januar ist in Frankfurt am Main in der Schirn die Ausstellung »Courbet. Ein Traum von der Moderne« zu sehen. Sie bietet einen einmaligen Blick auf die Natur- und Menschendarstellung des Künstlers. Was ist aber davon zu halten, daß sie ganz neue Aspekte dieses Werkes zeigen will? Courbet sei bisher einseitig als politisch engagierter, realistischer Maler gewertet worden. In Wirklichkeit sei er eher ein romantischer Träumer gewesen, dessen Malweise bereits viele spätere Errungenschaften der Moderne wie die »Befreiung der Farbe« ahnen lasse, ein Vorläufer von Cézanne und anderen.
Es gehört zum Event-Marketing des Kulturbetriebs, so etwas zu verkünden. Alle Zeitungen plappern es nach, das steigert das Interesse und bringt höhere Besucherzahlen. Aber stimmt es denn, oder ist wenigstens etwas dran?
Nur dann, wenn man, wie in der Kunstwissenschaft und im Feuilleton leider üblich, unter Realismus die mehr oder weniger genaue Widerspiegelung des Gegenstands versteht und nicht eine Haltung zur Wirklichkeit. Courbet selbst sagte dazu: »Realist sein bedeutet, ein aufrichtiger Freund der wirklichen Wahrheit zu sein«. Bloße Wiedergabe der Phänomene hat er damit bestimmt nicht gemeint.
Der Versuch einer Neubewertung Courbets hat offenbar den Zweck, ihn und sein Werk zu entpolitisieren und es zeitgemäß umzuinterpretieren. Ein Beispiel: Das Bild »Die Woge« von 1869 wurde 1979, als schon einmal eine große Courbet-Ausstellung in Frankfurt stattfand, im Katalog als Absage des Malers »an jene bürgerliche Mentalität seiner Zeit, die sich Natur erklärbar und verfügbar wünschte«, bezeichnet.
Der Kunsthistoriker und Courbet-Spezialist Klaus Herding, der an der damaligen Ausstellung beteiligt war und die jetzige konzipiert hat, gab den zusätzlichen Hinweis: »Das Meer ist im Französischen eine häufig verwendete Metapher für das Volk«.
Damit wurde das Bild in Beziehung gesetzt zur politischen Situation Frankreichs am Vorabend des Krieges von 1870/71 und der Pariser Commune. Die französischen Besitzbürger konnten sich von Courbets Woge bedroht fühlen, zumal sie vor seiner ungeschlachten Maltechnik und seinen »schmutzigen Farben« sowieso einen Horror hatten.
Wie stellt sich das nun im Katalog von 2010 dar? Klaus Herding interpretiert »Die Woge« jetzt so: »Wahrscheinlich hat Courbet damit nicht nur seine seit 1850 propagierten antizivilisatorischen Grundsätze, sondern auch bereits Darwins ›struggle for life‹ verbilden wollen. Durch Proudhon konnte er von Darwin gehört haben.« Im Begleitfilm, der in der Ausstellung gezeigt wird, heißt es noch apodiktischer: »Courbet betrachtet die Landschaft als Spiegel des Daseinskampfes.«
Courbet – ein früher Promoter des »Kampfes ums Dasein«, bei dem die Konkurrenz aller gegen alle und die daraus resultierenden Verhaltensweisen etwas Naturgegebenes, genetisch Angelegtes sind, nach dem Motto: Fressen oder gefressen werden? Bei einem Bildergespräch zur »Woge« sagten die Teilnehmer, daß sie dies in dem Bild nicht entdecken könnten und wollten. Auf die Frage, warum es dann so im Katalog stehe, meinte eine junge Teilnehmerin spöttisch und treffend: »Wegen Thilo Sarrazin«.
Courbet selbst hätte sich der modisch-zeitgeistigen Interpretation seines Werkes durch Klaus Herding kaum angeschlossen. Zu seiner politischen und künstlerischen Haltung sagte er: »Ich bin nicht nur Sozialist, sondern auch Demokrat und Republikaner, kurz, ich unterstütze die ganze Revolution, und vor allem bin ich ganz Realist.«
Gegen den Mainstream des Feuilletons stand wie stets Eduard Beaucamp mit seiner Rezension der Ausstellung. In der FAZ schrieb er: »Rebell von 1848, Klassenkämpfer von 1871 und zugleich inwendiger, zeitvergessener und weltabgewandter Melancholiker, realistischer Programmmaler und zugleich bedeutungsschwangerer Symbolist und Romantiker (…) Wir sollten Courbet in seiner Vielfalt und Ambivalenz bewundern. Auch der politische Rebell und Unruhestifter hat keineswegs ausgedient. Die gesellschaftlichen Konflikte, die ihn umtrieben, sind nicht überwunden.«