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Titel0211

Lob der Langsamkeit  (Thomas Rothschild)

Für die Befürworter von »Stuttgart 21« haben wir eine kleine Reiseempfehlung: Sie mögen sich doch an einem sonnigen Wintertag in Freiburg in den Zug setzen, der dort jede halbe Stunde abfährt, und über Hinterzarten und Titisee am Schluchsee entlang nach Seebrugg bummeln. Sie könnten dabei eine Entdeckung machen: daß Bahnfahren nicht nur eine Angelegenheit der Effizienz, sondern auch des Genusses, der Beschaulichkeit sein kann.

Wie sagt doch das Bäurle in dem bekannten Volkslied von der schwäb’sche Eisenbahne zum Konduktor, nachdem das hinten am Wagen angebundene Böckle auseinandergerissen ist? »O, du kannst de Schade zahle, warum bist d’so schnell gefahre!/ du alloin bist schuld dara, dass i d’Geiß verlaure ha!« Und in den fünfziger Jahren schwärmte ein Schlager von der »liaben kloanen Eisenbahn«, die zwischen Salzburg und Bad Ischl pfeift.

Sie pfeift schon lange nicht mehr, und auf de schwäbsche Eisebahne braucht mer zwar keine Postillione, aber was uns sonst das Posthorn blies, pfeift uns jetzt auch keine Lok’motiv. Wahrscheinlich sehnt man sich spätestens dann ganz anachronistisch nach der pfeifenden Dampflok, wenn die Elektrolok – »Alle reden vom Wetter« – wegen vereister Oberleitung Hannover nicht erreicht. Und tatsächlich war es eine Dampflok, die die Passagiere von ihrer unfreiwilligen »Haltstatione« befreite.

Nun könnte man sich mit solchen Verlusten abfinden, wenn das allgegenwärtige Prinzip der erhöhten Effizienz wenigstens befolgt würde. Die Wahrheit ist: Mit dem vermeintlichen technischen Fortschritt hat die Leistung nicht zu-, sondern abgenommen.

Wir reden hier gar nicht erst von den täglichen Pannenmeldungen aus dem Stuttgarter Raum. Von Stuttgart nach Wien oder Saarbrücken fährt man mit dem Zug heute zwar wesentlich teurer, aber länger und unbequemer als vor 20 und 30 Jahren, weil man bei den meisten Verbindungen zum Umsteigen gezwungen ist. In Joseph Roths Roman »Radetzkymarsch« fahren die Offiziere mit der Bahn übers Wochenende von der russischen Grenze nach Wien. Das war vor knapp einem Jahrhundert. Heute überwindet man diese Entfernung auch nicht schneller.

Die Dienstleistungen der Post haben sich radikal verschlechtert, seit nicht nur die Postillione auf der Postkutsche, sondern auch Postämter und Briefkästen verschwunden sind.

Wer solche Überlegungen anstellt, wird der romantischen Verklärung der Vergangenheit verdächtigt. Was man dabei vergißt: Modernisierung ist nicht per se ein positiver Wert. In Stuttgart braucht man nur an die Fehlplanungen der Stadtautobahn oder des Kleinen Schloßplatzes zu denken. Warum rekapituliert niemand die Versprechungen, mit denen diese Projekte geplant, und die Gründe, warum sie gebrochen wurden? Zur Modernisierung gehören auch die Verdrängung mittelständischer Läden im Stadtzentrum durch Supermarktketten auf der grünen Wiese, die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Computer oder die Rationalisierung des Studiums durch Verkürzung und Verdünnung. Sind die Menschen dadurch glücklicher geworden? Hat die stete Beschleunigung ihnen zu mehr Lebensqualität verholfen?

»Modernisierung« hat seit Taylorismus und Automatisierung stets in erster Linie dem Profit der Reichen, nicht aber der Lebensverbesserung der großen Massen gedient. Ist der Mensch überhaupt noch das Maß der Dinge, oder ist es eben der Profit einiger Weniger?

Wenn man durch Bologna, Freiburg im Breisgau oder Tübingen bummelt, erhält man noch eine Ahnung von einer Stadtplanung, die sich am menschlichen Maß orientiert.

Anderswo hat man vergessen, wem der angebliche Fortschritt dienen soll. Nicht nur in der Stadtplanung. Nicht nur bei der Eisenbahn. Sondern ins fast allen Lebensbereichen.