Gesetzt den Fall, ein in die Tage gekommener Alt-68er, Alt-Kommunist, linker Gewerkschafter oder auch SPDler kommt auf die Idee, seine über die Jahre gesammelten Erfahrungen oder Erlebnisse in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzuschreiben. Nehmen wir dazu an, daß er sich zum einen nicht mehr so genau an bestimmte Daten erinnert und auch nicht – weil immer etwas verunsichert auf seinem langen Weg durch die Instanzen des Staates – über alles Buch geführt hat. Was also tun? In seinem Bekanntenkreis nachfragen? Das ist problematisch, weil der einerseits im Verlaufe der Zeit immer kleiner geworden ist und andererseits der eine oder andere selbst in diese oder jene Sache involviert war und darum ebenfalls kein Tagebuch geführt hat.
Da bleibt nur eins: Frag nach bei den Hirten und schreib einen Brief an das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln.
Da das Amt immer wieder versichert, sich über Fragen, Vorschläge, Kritik und Hinweise aller Art zu freuen und sie »egal auf welchem Weg und womit Sie sich an uns wenden« vertraulich zu behandeln, müßte ein Auskunftsbegehren bei der finanziell (Jahresetat 2010 rund 174 Millionen Euro) und personell (2010 mit 2.641 Mitarbeiter) gut ausgestatteten Institution aus der Verlegenheit helfen. Bei Erläuterung des Anliegens könnte also beispielsweise dargelegt werden:
»Meiner Erinnerung nach, bin ich im März 1962 in (Ort einfügen) bei einer Veranstaltung/Kundgebung/Demonstration gegen/für (Thema einfügen) gewesen und ein wenig/heftig mit (Polizei/Nazis) aneinander geraten. Sie würden mir mit der Nennung des genauen Datums sehr helfen. Da ich Sie über meine vom Lohn/Gehalt einbehaltenen Steuern bereits finanziert habe, gehe ich davon aus, daß die mir laut Gesetz zustehende Auskunftserteilung kostenlos erfolgt. Mit freundlichen und so weiter und so fort.
Bei den im Kölner Amt oder bei den jeweiligen Landesämtern verfügbaren Dateien und der modernen Technik wird eine umfassende Antwort nicht lange auf sich warten lassen. Sollte der Hilfesuchende nun in der Vergangenheit nach Jahren des aktiven Mittuns in den vom Dienst auftragsgemäß observierten Kreisen ausgestiegen sein, gar das getan haben, was man so »tätige Reue« nennt, also ein wenig auspackt haben über sein oder eines anderen tun, dann kann er sogar mit dem fotografischen Nachweis seiner Aktivität im angefragten Zeitraum rechnen.
Ein vom linken Glauben abgefallener Mitarbeiter eines bekannten Politikers aus dem Ruhrgebiet kam so in den Genuß staatlicher Hilfeleistung. Als er vor Jahren das Bedürfnis hatte, Interna über sein Mitwirken bei den »verfassungsfeindlichen« Umtrieben des inzwischen verstorbenen KPD-Bundestagsabgeordneten nach dem KPD-Verbot von 1956 in Buchform öffentlich zu machen, konnte er seine Enthüllungsschrift mit diversen Fotos von konspirativen Treffs (mit eingeblendeten Datum und Uhrzeit) illustrieren. Er mußte nur die Urheberrechte (Quelle Verfassungsschutz) angeben.
Andere Auskunftsheischende, zum Beispiel Ulla Jelpke, Petra Pau und Bodo Ramelow von der Linkspartei, wurden ohne Bilddokumente abgespeist, als sie um Auskunft über die in Köln gesammelten »Erkenntnisse« nachsuchten. Dem inzwischen verstorbenen Kommunisten Kurt Baumgarte aus Hannover wurde nach seinem entsprechenden Ersuchen vom niedersächsischen Innenministerium detaillierte Auskunft über seine Tätigkeit vor und nach dem KPD-Verbot, jedoch unter Ausklammerung seiner zwölf Jahre Zuchthaus zuteil, zu denen er vom »Volksgerichtshof« wegen seines Widerstandes gegen das faschistische Regime verurteilt worden war. Versichert wurde dem damals 82jährigen aber: »Die einschlägigen Vorgänge werden fortgesetzt.«
Nun darf aber das Vertrauen in die, sagen wir Buchführung des Verfassungsschutzes nicht zu blindem Vertrauen führen nach des Dichters Wort: »Was du schwarz auf weiß besitzt, kannst du getrost nach Hause tragen.«
Bei der vorherrschenden Sammelwut kann schon mal ein dieser oder jener Publikation entnommener Papierschnipsel nebst dazugehörigem Namen vertauscht werden.
So geschehen in dem unter Verantwortung des damaligen Innenministers Otto Schily (SPD) produzierten Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz für das Jahr 2004. Hier wird die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) als »linksextremistisch« eingestuft, weil sie »nach wie vor in ihren Leitungsgremien eine Vielzahl von – zumeist älteren – Kommunisten« aufweise. Zum anderen auch darum, weil sie »effiziente antifaschistische Handlungsstrategien gegen Neonazi-Aufmärsche auf der Straße und gegen deren staatliche Sanktionierung« fordere. Als »Beweis« dafür wurde auf das Verbandsblatt antifa, Heft 10-11/04, Seite 15, verwiesen. An dieser Stelle habe sich der Vorsitzende des Verbandes, Heinrich Fink, mit den angeführten Worten geäußert.
Ganz abgesehen von der Frage, was an dieser (damals und heute erst recht) legitimen Forderung »linksextremistisch« ist, oder eine »typisch kommunistische Analyse« darstellt, haben wir es hier mit einer plumpen Fälschung zu tun. Weder auf Seite 15 der Zeitschrift noch im gesamten Heft findet sich ein Beitrag aus der Feder von Heinrich Fink. Abgedruckt und sehr »frei« interpretiert ist auf Seite 15 ein Gespräch, mit dem Geschäftsführenden Direktor der Berliner Stiftung Topographie des Terrors, Andreas Nachama. Anlaß war die skandalöse Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht einen für den 26. Juni 2004 angemeldeten Aufmarsch der neofaschistischen NPD gegen den Bau einer Synagoge in Bochum als deren »Recht auf freie Meinungsäußerung« genehmigt hatte. Dadurch und durch »eine gigantische Umverteilung«, so Nachama, würde die Grundlage »auf [der] die Bundesrepublik nach 1945 mit Lehren aus der Vergangenheit errichtet wurde«, »plötzlich in Frage gestellt«. Rabbiner Nachama, einige Jahre auch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, hatte präzisiert: »Ein Marsch gegen den Bau einer Synagoge wäre vor 20 Jahren von einem Bundesverfassungsgericht nicht genehmigt worden. Genau so wenig wie die unsozialen Maßnahmen, die es heute gibt, vor 20 Jahren Bestand gehabt hätten.«
Überflüssig zu sagen, daß das Bundesamt für Verfassungsschutz die Fälschung, über die ich in Ossietzky 13/05 berichtet habe, jemals eingestanden hätte. Und was aus einem werden kann, der sich in »tätiger Reue« übt, da sei auf Karl-Heinz Siemens, vor 1945 SS-Obersturmführers in der »Leibstandarte Adolf Hitler«, verwiesen. Der hatte als V-Mann bis 1953 in den Reihen der 1951 in der Bundesrepublik Deutschland verbotenen Freien Deutschen Jugend gespitzelt und war nach seiner Kronzeugenrolle in zahlreichen Prozessen zur Belohnung 1960 als Oberregierungsrat in der für Linksradikalismus zuständigen Abteilung drei eingestellt worden. Die Krönung einer so gar nicht untypischen Karriere eines von braun zu schwarz mutierten Schlapphutes.