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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Ach, waren das Zeiten, als man sich der Schaubühne mit Respekt, gar Demut näherte: Hier sah man großes und bewegendes Zeittheater, Theater höchst bedeutsamer Aufklärung und zuweilen Idealbildung, zwischen szenischer Universität und kräftigem Volkstheater. Weltbewegendes sogar. Nach 1945 gab es zwei Bühnen, die richtungsweisend waren und von Berlin aus in die Welt wirkten: Seit etwa 1950 das Berliner Ensemble unter Brecht und eine zeitlang unter seinen Schülern. Als das in den siebziger Jahren verebbte, kam neuer Zeit- und Theatergeist aus Bremen: zunächst ans Hallesche Ufer und später zum Lehniner Platz und strahlte weltweit, bis es zum normalen Stadtlicht wurde. Die Tempel wurden zu ganz normalen Bühnen, hatten ihren Modellcharakter verloren, lieferten das Zeitübliche, das konnte gut sein und mitunter mäßig bis schlecht. In den letzten Monaten sah ich einiges, was diesen Eindruck bestätigt.

Warum sich Sprechbühnen immer wieder mit den frühen Opern, besonders Monteverdi, beschäftigen, bleibt ihr Geheimnis. Die Atriden- und Labdakiden-Stoffe gibt es in mannigfachen dramatischen Varianten, warum also »Die Heimkehr des Odysseus« nun auch in der Schaubühne, inszeniert von David Marton? Das Ganze war eine Halbheit, nicht kalt, nicht heiß, so schwerfällig wie leichtfertig im Umgang mit dem Mythos, dabei einigen guten Einzelszenen – in gar keinem Fall eine bereichernde Erfahrung im Umgang mit Antike und Mythos. Legt’s zu dem Übrigen.

Vom Mythos zur Religion an diesem Hause: »The Day before the Last Day« von Yael Ronen. Ein verworrener Text bis zum Gehtnichtmehr. Und dazu wird noch der »Hamlet« mißbraucht, indem die Bühnenfigur einen Schauspieler namens Bormann (ausgerechnet dieser Name) niedersticht, quasi mißbraucht. Dieser aber hielt sich für einen Propheten, der eine Art Friedens-Versöhnungs-Religion predigen will. Unter seinen »Jüngern« mißrät das, unter ödem Gequatsche bleibt am Ende Chaos übrig. Der Ursprungsgedanke mag gut gewesen sein: die Versöhnung der abrahamitischen Religionen. Ebenfalls eine günstige Voraussetzung bot das aus israelischen, palästinensischen und deutsch-christlichen Schauspielern zusammengesetzte Ensemble. Das Ergebnis entspricht dem keinesfalls. Stoff und Thema sind zu groß, Ensemble und Regisseurin können das zusammengesetzte Wortgewebe nicht fassen. Da hätte man ein von Meisterhand gebautes Stück mit einer Fabel gebraucht anstatt loser, manchmal gar komödischer Szenen, die – für sich allein zum Teil brauch- wie machbar – kein Ganzes ergaben. Schade um die Zeit!

Fast das Gegenteil brachte man im Studio: »Der talentierte Mr. Ripley« von Patricia Highsmith. Von oben angeführter Bedeutungshuberei zu einem handwerklich gutgemachten »Garnichts«, inszeniert von Jan-Christoph Gockel. Personennamen nehme ich ungern zum Aufhänger einer Kritik, mit Verlaub hier sei’s: Hier ward bloß ein bisserl gekräht. Schaubühne – wohin gehst Du?

Ob Friederike Heller mit Hauptmanns »Einsame Menschen« den Kurs wenden konnte? Ein handfestes Berliner Familien- und Beziehungsdrama, am Müggelsee spielend, in dem sich der als Künstler und Mensch gescheiterte Johannes Vockerat am End ertränkt. Und dennoch am zweiten End als Zentrum des Geschehens auf einem inmitten der Bühne hingebauten Quadratplatz sitzt, so im Sinne: Ich bin der Mittelpunkt der Welt. Oder: Es lebe das Leben! Das entspricht etwa der Haltung Hauptmanns. Das Ganze in einer Dramaturgie, die der eben beherrschte. Und Dialoge konnte er schreiben. Das nutzten gute Schauspieler, vor allem Jule Böwe als Anna. Auch Ernst Stötzner als Mutter Vockerat. Das sollte wohl der Witz der Inszenierung sein, das Skabrös-Widersprüchliche ausstellend. Mit Stötzner, der fast alles kann, war das möglich. Männer spielten seit der Antike Frauen, warum also nicht umgekehrt, aber recht einsichtig war es nicht. Immerhin – eine ansehenswerte Aufführung!

Indes eine der Schaubühne und ihrer großen Zeit am ehesten angemessene Produktion ist »Maß für Maß«. Was braucht man, um eine Meisteraufführung herzustellen? Als erstes ein gutes Stück, zweitens eine gute Inszenierung von Regisseur und Szenograf, drittens ein Ensemble guter Schauspieler –, und wenn alles zur Spitze treibt, dann noch einen erstklassigen Spitzendarsteller. Ich denke, dieses »Maß für Maß« hatte das Maß.

Zwar halte ich fast jedes Shakespeare-Stück, das ich gerade vor mir habe, für das beste, aber dieses hat doch eine besondere Dimension. Nahezu alle Themen des Briten sind enthalten – und alle Visionen auch. Die Inszenierung von Thomas Ostermaier hatte Dichte und war zumindest nicht platt aktualisiert – wenn doch bloß nicht diese elenden Straßenanzüge aus den Nebenstraßen des Kurfürstendamms wären! Leider waren manche verdeutlichenden Textpassagen und etliche Personen um der Kürze willen fortgelassen. Man muß nicht Castorfsche Überlängen anstreben, aber diese Kurzfassungen großer Dramen sind oft zu puristisch, entbehren vieler Schönheiten. Das Ensemble mit Franz Hartwig, Jenny König, Erhard Marggraf und anderen: gut und ausgewogen. Bernardo A. Porras als Claudio – eine gewiß sehr schwere Rolle – überzeichnet. Noch schwerer hat es Lars Eidinger als Angelo. So große Spannweiten im Charakter, so viele Schattierungen, das führte am Ende zu Unschärfen. Doch diese Aufführung hatte einen besonderen Glanzpunkt im überragenden Gert Voss vom Burgtheater als Herzog, Hauptfigur und doppelter Spielführer. Dieser Text, diese Spielführung und das Spiel dieses Ensembles holen alles aus Drama und Geschichte, was die Geschichte an Unerledigtem mit sich führt und in die Gegenwart führt, daß es der Plattheit zeitgenössischer Kleidung nicht bedarf. Es wäre für den Zeitgenossen Zuschauer viel bestürzender gewesen, wenn er gemerkt hätte, wie heutige Konflikte in der Historie, damit auch im historischen Kostüm, anliegen. Wie schade, daß eine bloße Mode zur Ästhetik aufgestiegen, diese damit freilich verkommen ist.

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Auf zur Volksbühne, zu der ich es nicht so weit habe – räumlich!

Dieses Haus und sein umtriebiger Chef inszenieren kaum nur dramatische Texte, sondern sind immerdar und -fort mit aufwendigen Projekten befaßt, die sich nicht nur am Rosa-Luxemburg-Platz abspielen, sondern an der Salzach und an der Ringstraße im ehemaligen Kernland der Habsburger, genauer im Theater an der Wien, da wo nordwärts die Donau vorbeifließt und meine Urheimat ist. Dorthin verpflanzte Castorf nun seinen soundsovielten Dostojewski, seinen von ihm dramatisierten Roman »Der Spieler«. Castorf, dieser Spieler-Regisseur oder Regisseur-Spieler – so hat man den Eindruck – spielt mit dem Text, mit dem Autor und mit sich selbst, indem er ihn so an sich zog, als sei er überhaupt von ihm, und das tut er mit seiner eingeschworenen Truppe.

Der Anlaß, die Geschichte jenes Lehrers Alexej Iwanowitsch, der im fiktiven Roulettenburg im Spiel ein Vermögen gewinnt und alles wieder verspielt, ebenso wie die Großtante Antonida (Sophie Rois), ist vordergründig, aber weist die Richtung in die Selbstzerstörung, auch der des Liebesverhältnisses zu Polina (Kathrin Angerer). Alexej (Alexander Scheer) gerät in den Einflußbereich der russisch-kirchlichen Orthodoxie, aber Dostojewski selbst, Ur-Russe, ist im Westen, doch kein Westler. Weltersatz wird – ist – der Spielsalon, zugleich Metapher für die Brüchigkeit von allem, was da so eben heutig und europäisch ist. Mit versucht-verruchtem Charme und halbwegs richtig klingenden Wiener Brocken ist sogar ein bisserl Wiener Hauch ins strenge Theatron eingezogen. Halt a bisserl Spiel in die ernste Lage, der diese ganze Bande auf der Szene nicht gewachsen ist. Und wo noch nicht? Die vor der Szene?

Ansonsten: Alles castorfsch: sehr laut, sehr lang, erschöpfend. Diese grundlegenden gedanklichen Ansätze, das große Spiel, das ernste Arbeit voraussetzt – doch muß man immer gedankenschwer allen zeigen: »Paßt auf, hier wird schwer gearbeitet!« Da gehen eben oft Spiel und Leichtigkeit verloren – man sitzt im Theater nicht gern wie im Bildungsabend einer Volkshochschule oder Partei – Theater möchte auch Vergnügen, erlebt, genossen und nicht stets schwer erarbeitet, gar erlitten sein.

Fast sah die nächste Produktion wie eine Antwort auf solche Theater-Arbeit aus: »Die Sonne« von Olivier Py, längere Zeit Leiter des Pariser Theaters Odéon, demnächst Chef des Avignoner Festivals. An einem Gedanken des Barocktheaters vom Theater im Theater macht Py seine Vorstellung deutlich: Theater ist einfach eine Rolle spielen, um damit Ruhe zu schaffen. Theater macht sich selbst zum Thema, die Schauspieler ebenfalls und damit so ihr bisweilen chaotisches Leben bis hin zu Durcheinander-Sex. Doch so bemerkenswert ist das eben auch nicht, um solches länger als drei Stunden auszuhalten. Acht Schauspieler zeigten, was so angeblich oder tatsächlich bei ihnen vorgeht, freilich alles ziemlich grob und outriert. Ausgenommen sei die herrliche Ilse Ritter, die einst Thomas Bernhard in seinem abgründig-witzigem Spielstück »Ritter. Dene. Voss« berühmt gemacht hat: Da war Echtheit im Spiel, sogenanntes Komödiantentum, bereichert durch Maß, das heißt Kunst.