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Titel022013

Über der Schwelle  (Kurt Pätzold)

Da war sie wieder. Die Doppelfrage, die sich am letzten Dezembertag in den ohnehin etwas unregelmäßigen Tagesablauf drängt: Was hat uns das alte Jahr gebracht, was wird das neue bescheren? Teil eins ließ sich bei einiger Anstrengung des Gedächtnisses und einigem Aufwand an analytischer Kraft meist noch beantworten. Mit dem zweiten war es wie stets so eine Sache. Manches möchte man wissen, anderes lieber nicht. Völlig ahnungslos geht niemand über die Jahresschwelle. Doch manches Gedankengepäck sollte man lieber gar nicht mitnehmen.

Verläßt man den Kleinkreis von Familie und Freunden und richtet den Blick aufs Große und Ganze wird es mitunter schon vorab ärgerlich. Da ist zum Beispiel die Sache mit den bevorstehenden Jahrestagen, denen sich nicht entkommen läßt, will man nicht völlig auf das Lesen von Zeitungen oder das Hören gesprochener Nachrichten verzichten. 2013? Da hat vor zweihundert Jahren doch an drei Oktobertagen auf sächsischem Boden die Völkerschlacht stattgefunden. Das werden sich die Stadtväter zu Leipzig im Verein mit Hotelbesitzern, Gaststätteneignern und Museumsleitern nicht entgehen lassen. Die einen getrieben von Geschichtsbewußtsein, die anderen vom Blick in ihre Kassen.

Der Gipfel der Feierlichkeiten soll erreicht sein, wenn das kriegerische Gemetzel am historischen Ort möglichst realitätsnah aufgeführt werden wird. An Darstellern wird es nicht fehlen und generalgeprobt wurde schon 2012. Da kamen sie noch nicht aus aller Welt, aber unter anderem auch aus dem benachbarten Frankreich und Polen, historisch echt kostümiert, bewaffnet mit Säbeln, Gewehren und Kanonen und spielten mit Platzpatronen Krieg. Warum sie das täten, wurden sie von einer neugierigen Fernsehjournalistin gefragt. Und polnisch und französisch lauteten die Antworten übereinstimmend, weil sie so froh darüber seien, daß sie in einem Europa lebten, das keine Kriege mehr kennt und fürchten müsse. Und diese Freude drücken sie auf ihre Weise aus. Sie schmeißen sich, der Regie folgend, tödlich getroffen auf die sächsische Erde und sind eben – glücklich. Beim Gedanken an diese Zeitgenossen werden sich die Erwartungen an 2013, jedenfalls was Fortschritte auf dem weiten Feld der Aufklärung und Kultur anlangt, nicht eben hochschrauben lassen. Nur im Reich der Wohlgefühle soll sich das Programm der Leipziger Tage aber nicht erschöpfen. Es wird auch eine von Fachleuten gefertigte Ausstellung und eine wissenschaftliche Konferenz geben. Da lauern im übertragenen Sinne größere Gefahren als bei der Schlachtspielerei. Denn es kommt die Rede unvermeidlich, wollen sich die Veranstalter nicht des Vorwurfs der »weißen Flecken« aussetzen, auf die Rolle der Sachsen in jenem Befreiungskriege und die lag, wörtlich benotet, zwischen vorwiegend bis teilweise schändlich. Der sächsische König hielt zu Zeiten der später so genannten Völkerschlacht noch immer an der Seite Napoleons aus, was ihm dann eine Gefangenschaft eintrug, die er jedoch standesgemäß in jenem Schloß verbringen durfte, das nicht nur Berliner von ihrem Besuchen im Tierpark gut kennen. Seiner Hoheit Truppen kämpften bei Leipzig tatsächlich anfangs noch mit den anderen des Franzosenkaisers. Manche Sachsen liefen dann aber inmitten des Geschehens über und drehten Gewehre und Kanonen gegen jene um, die ihnen eben noch als Bundesgenossen gegolten haben mochten.

Jedenfalls ist der Hergang wie manches andere in Sachsens Geschichte während des 19. Jahrhunderts rühmlich nicht zu nennen. Jedoch: Gäbe das große Erinnerungsfest nicht Gelegenheit, beispielsweise einem in der Vergangenheitsbewältigung erprobten Mitglied der Landesregierung, am besten dem Ministerpräsidenten, sich für das einstige – urteilen wir nicht zu scharf und sagen wir – Fehlverhalten zu entschuldigen und damit die leidige Sache ein für allemal hinter sich zu bringen? Ob es dazu kommen wird, gehört zu jenem Paket von Unwissen, das wir in das Jahr 2013 mitgenommen haben. Gleiches gilt für die Frage, wieweit die aus dem geschichtlichen Jahr zu gewinnenden Lehren in Erinnerung gerufen werden. Zu ihnen zählt, daß das Volk, das die Befreiung vom Besatzungsjoch sich erkämpfte, um die Einhaltung der Versprechen betrogen wurde, die ihm die Herrschenden gemacht hatten. In den drastischen Worten eines Zeitgenossen lautete eine der Warnungen: Du sollst Dich nicht wieder bescheißen lassen.