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Titel022014

Wider den Nebel der Sprachbilder  (Kurt Pätzold)

Der Weltkrieg, der später der Erste hieß, war in die Jahre gekommen. Aus den Festtagen, mit denen er im August 1914 in deutschen Städten von auf Straßen und Plätzen zusammengeströmten Menschen begrüßt wurde, waren Werktage geworden und aus ihnen der Alltag von Millionen. Die scherte inzwischen mehr, was sie in die Kochtöpfe tun konnten, als es die Informationen des Heeresberichts taten. Sie sehnten sich nach Frieden.

In jenen Zeiten unterhielten sich zwei Halbwüchsige, Schüler noch, über diesen Krieg, dessen Wahrnehmung sich auch für sie spürbar verändert hatte. Den Anstoß ihres Gesprächs gab ein Brief, den der eine von seinem Vater aus fernem Land, geschrieben in einem Unterstand, erhalten hatte. Er enthielt die Mitteilung, er werde zur bevorstehenden Konfirmation des Sohnes keinen Urlaub erhalten. Das war die Quittung, die der kaiserliche Soldat dafür bekommen hatte, daß er in einem Kreis, in dem er das besser unterlassen hätte, den Krieg als kapitalistischen Schwindel bezeichnet hatte. In dem Brief, den der Empfänger dem Freund vorlas, waren die wenigen, die am Krieg interessiert seien, so aufgezählt worden: »1. die Generale – denn der Krieg ist ihr Handwerk; 2. die Minister – denn sie wollen Belgien und Polen haben; 3. die großen Unternehmer – denn sie verdienen an ihren Granaten Millionen. Diese drei Typen findest Du in allen Ländern. Deshalb geht der Krieg weiter.« Und auch, fährt der Schreiber fort, weil sie viele Helfer bis zu den Philosophen besäßen, die das Volk betäuben würden, dazu die Pfarrer, die Lehrer, die meisten Redakteure und jene bürgerlichen Dichter, die zu dumm oder zu faul seien, die Wahrheit zu sagen. Es mache sich, erklärt der Vater gegen Ende dem Sohn, den stärksten Vorwurf, daß auch er selbst zu Beginn des Krieges den Lügen aufgesessen sei.

Die Episode erzählt Ernst Glaeser, der 1917 gerade 15 Jahre alt und Schüler eines Gymnasiums war, in seinem 1928 erschienenen Buch »Jahrgang 1902«. Es gehört gemeinsam mit dem ein Jahr zuvor publizierten Roman Arnold Zweigs »Der Streit um dem Sergeanten Grischa« und dem im darauffolgenden Jahr auf den Buchmarkt gelangten »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque zu den Antikriegsbüchern, die in der deutschen Literatur einen denkwürdigen Platz behaupten. »Jahrgang 1902« ist eben wieder gedruckt worden.

In der Weltbühne, die zwei Kapitel des Buches vorab druckte, hatte Carl von Ossietzky dem Band ein Willkommen geschrieben. Das Buch sei ein »junges Meisterstück«. Es hole nach, was die deutschen Schriftsteller bisher versäumt hätten, schildere es doch, was die Heimat im Krieg war. Ein Menschenalter nach dem Erscheinen des Buches kann der Leser auf andere Gedanken kommen, beispielsweise wenn er bei der eingangs geschilderten Episode innehält und fragt, ob das Thema, das die beiden jungen Burschen 1917 erregte, die Frage nach den Interessenten am Kriege und deren Antrieben und Zielen, in der heute auf den Markt gelangenden Büchermenge über den Ersten Weltkrieg einen Platz erhält, womöglich gar den ihm gebührenden?

Auf die gleiche Frage mag auch ein Leser von Remarques Roman stoßen, dessen Ich-Erzähler, hungernde und verhungernde russische Gefangene bewachend, sich fragt, wie aufgrund von Entscheidungen einiger Leute Befehle Menschen zu Feinden machten, die einander nichts zu leide getan hätten. Gedanklich dort angekommen, will er weiteres Nachdenken darüber aber aufschieben »bis der Krieg zu Ende ist«. Das mißlingt, denn Tage später und wieder an der Westfront gerät er im Kreis seiner Kameraden, Mitschüler von einst und Arbeiter aus Norddeutschland, Familienväter, in eine Diskussion darüber, »wie eigentlich überhaupt ein Krieg entstehe«. Und es ist ein Bauer, der gegen die psychologisierenden Deutungen der Gymnasiasten auf den Kaiser und die Generale verweist und sagt: »Sicher stecken andere Leute, die am Kriege verdienen wollen, dahinter.«

Eine Prüfung ergibt, daß die Fragen, die an den Krieg der Jahre 1914 bis 1918 von seinen Zeitgenossen gestellt wurden und die ebenso an jeden der heute ausgetragenen zu richten wären, in der zeitgenössischen Literatur und Publizistik dicht eingenebelt werden. Deren Autoren, auf die unmittelbare Vorkriegs-, die sogenannte Julikrise fixiert, gehen »Geheimnissen« nach wie: Wer, wann, wem, wo, was gesagt oder verschwiegen hat, wer was und wie viel und mit welcher Genauigkeit wußte und wer mehr oder weniger ahnungslos war. Unwissen, Irrtümer, Blindheit, Ratlosigkeit, auch Leichtsinn, Phantasielosigkeit und dergleichen hätten schließlich dahin geführt, daß Europa, nicht wie es früher hieß, in den Krieg schlitterte, sondern in ihn getaumelt oder schlafwandelnd getappt wäre.

Wenn der bevorstehende 100. Jahrestag dazu beitragen soll, Geschichtsverständnis zu wecken oder zu vertiefen, müssen die Sprachbildernebel gelichtet und an das ferne Geschehen ihm angemessene Fragen gestellt werden.

Ernst Glaeser: »Jahrgang 1902«, hg. von Christian Klein, Wallstein-Verlag Göttingen, 390 Seiten, 22,90 €