Bitterkalt war es an jenem Januartag, als sich die ersten Kundgebungsteilnehmer am Pariser Platz der Bundeshauptstadt einfanden. Doch bald schon wurden es mehr und mehr, und schließlich füllten sie die historische Mitte Berlins, weit in die Prachtstraße Unter den Linden hinein. Erste Kolonnen näherten sich bereits dem Reichstagsgebäude, dem Sitz des Bundestages. In ihrer großen Mehrheit waren es Bürgerinnen und Bürger aus den ostdeutschen Bundesländern und aus den östlichen Stadtbezirken der Metropole. Auf Transparenten und in Sprechchören forderten sie eine sofortige Beendung ihrer jahrzehntelangen Diskriminierung und soziale Gleichstellung mit ihren Landsleuten westlich von Elbe und Werra.
Ihre Hauptlosungen, geschriebene und skandierte, waren: »Wenn Ihr uns schon eingesackt habt, dann wollen wir auch in der Tat im Westen ankommen!« »Wir haben es satt, noch immer ›neue Bundesbürger‹ genannt zu werden, wir sind deutsche Bundesbürger mit gleichen Rechten und Pflichten!« »Was nutzen uns eine ostdeutsche Kanzlerin und ein ostdeutscher Pfarrer als Bundespräsident, wenn wir immer noch als ›Deutsche zweiter Klasse‹ behandelt werden?« »Nach nunmehr fast einem Vierteljahrhundert verlangen wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit!« »Schluß mit den niedrigeren Tariflöhnen, Mindestlöhnen und Rentenwerten!« »Verfassungsschützer, gebt endlich unsere Akten und vorratsgespeicherten Daten heraus!« »Wo bleiben die versprochenen Anteile an dem von der Treuhand veruntreuten Volksvermögen?«
Aufruhr und Massenkundgebung versetzten die Regierenden in Panik. Eilig wurden aus allen Landesteilen Polizeieinheiten zur Unterstützung der Berliner Sicherheitskräfte herangeführt. Mit brutaler Gewalt, eingeübt in Gorleben, Heiligendamm und im Frankfurter Bankenviertel, versuchten sie die Kundgebung aufzulösen. Vergeblich. Die anfangs so friedlichen Demonstranten zwangen sie zum Rückzug. Mehr noch: Die empörten Bürger errichteten zum Eigenschutz Barrikaden, sie blockierten den Reichstag, und einige Tausend besetzten das Rote Rathaus.
Den Massen auf dem Platz am Brandenburger Tor und vor dem Reichstagsgebäude war kalt, doch ihr Zorn ließ sie ausharren und zu ihrer Freude erhielten sie warmherzige Unterstützung. Der russische Außenminister Sergej Lawrow mischte sich in Begleitung von Sarah Wagenknecht unter die Kundgebungsteilnehmer und sprach ihnen Mut in ihrem gerechten Kampf zu. Die stellvertretende chinesische Außenministerin Fu Ying verteilte frisch geschmierte Butterbrötchen. Sie war bei weitem nicht der einzige hohe ausländische Gast, der seine Solidarität bekundete.
Die Bundesregierung und die Parteien der GroKo waren außer sich und verurteilten die Handlungen der hochrangigen ausländischen Vertreter als eine »grobe völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland«.
Stopp! Das soeben Geschilderte war, und keinen Ossietzky-Leser wird es überraschen, eine Träumerei, eine Fiktion! Nicht ostdeutsche Demonstranten wollten »im Westen ankommen«, sondern Ukrainer. Nicht auf dem Berliner Pariser Platz fand die Dauermassenkundgebung statt, sondern auf dem Platz der Unabhängigkeit, dem Maidan, in Kiew. Nicht der Bundestag wurde blockiert, sondern die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament. Nicht das Rote Rathaus wurde besetzt, sondern das Rathaus in der ukrainischen Hauptstadt. Wahr ist dagegen, daß sich hochrangige ausländische Politiker in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, in diesem Falle der Ukraine, in selten dagewesener Weise einmischten.
Der damals noch amtierende bundesdeutsche Außenminister, Guido Westerwelle, zog in Begleitung von Wladimir Klitschko, dem Bruder des ukrainischen Politikers und ehemaligen Boxschwergewichtsweltmeisters, Vitali Klitschko, und anderer Oppositionsführer zu den Demonstranten und sprach ihnen Mut zu. Der US-Senator John McCaine, der sich mit dem Führer der nationalistischen Partei Swoboda, Oleg Tjagnibok, laut der Simon-Wiesenthal-Stiftung einem der zehn Hauptantisemiten der Welt, traf, hielt auf dem Maidan eine Rede, die er auf Ukrainisch mit »Привіт, Майдане!« begann, um dann auf Englisch zu erklären: »Wir sind hier, weil Ihr friedlicher Protest die ganze Welt inspiriert … Die Ukraine wird Europa besser machen, und Europa wird die Ukraine besser machen. Die freie Welt ist mit Ihnen, Amerika ist mit Ihnen, und ich bin mit Ihnen.« Unter den Demonstranten war auch die stellvertretende Außenministerin der USA, Victoria Nuland, die auf dem Maidan frisch geschmierte Brötchen verteilte.
Die USA, die Bundesrepublik und deren EU-Partner sahen in ihren Handlungen, ganz zu schweigen von ihrer weltweiten Medienkampagne, keine vom Völkerrecht untersagte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine. Diese erblickten sie nur in den politischen und ökonomischen Schritten Moskaus, deren verdammenswertes Ziel es war und ist, die in Jahrhunderten gewachsenen Verbindungen zwischen Rußland und der Ukraine aufrechtzuerhalten, ein weiteres Vordringen der EU und danach zwangsläufig des NATO-Kriegspaktes mit seinen Raketen an die Grenzen Rußlands zu verhindern.
Man muß kein Freund Putins sein, um das vitale Interesse Moskaus zu verstehen. Es genügt schon die Frage seines Vorgängers und jetzigen Ministerpräsidenten, Dimitri Medwedew, zu beantworten »wie unsere deutschen Partner sich fühlen würden, wenn der russische Außenminister sich zu einem Mob begibt, der sich im Widerspruch zu deutschem Recht versammelt? ... Ich denke nicht, daß sie das als eine freundliche oder korrekte Geste bewerten würden.« Ja, was wäre wohl, wenn in bitterer Kälte die immer noch diskriminierten »neuen Bundesbürger« zum Brandenburger Tor zögen, den Bundestag blockieren und sich ausländische Politiker, zum Beispiel russische, unter die Demonstranten mischen und deren Protestaktionen unterstützen würden? Ganz gewiß würden Kanzlerin Angela Merkel, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Innenminister Thomas de Maizière und nicht zu vergessen die neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen »Halleluja« schreien und die ungebetenen Gäste zu einem Galadinner einladen. Oder etwa nicht?