Fehlende Akzeptanz des Rechtsstaates in der Justiz ist nicht nur ein Problem der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Ich will die Aktualität dieses Themas an drei Beispielen beleuchten: dem Umgang der Justiz mit Betäubungsmitteln, der mangelhaften Bearbeitung rechten Terrors und rechtsextremer Gewalt durch die Justiz und der in diesem Lande üblichen Straflosigkeit von Polizeibeamten, die in Ausübung ihres Dienstes Körperverletzungen begangen haben.
Das Betäubungsmittelgesetz hat sich in den 40 Jahren seines Bestehens in bezug auf das geschützte Rechtsgut, die Gesundheit, als wirkungslos erwiesen. Die Menschen konsumieren Rauschmittel unabhängig von gesetzlichen Vorhaben, gesellschaftlichen Verhältnissen, überbordenden Ermittlungsmethoden und noch so hohen Strafandrohungen. Heute greifen mehr Menschen zu Rauschmitteln als jemals zuvor. Man muß das als Realität erkennen. Zu Zeiten der Vorgängerregelung, des Opiumgesetzes, das als Höchststrafe drei Jahre Haft vorsah, gab es zu Beginn der 1960er Jahre durchschnittlich drei Verurteilungen pro Woche in der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Heute, wo das Betäubungsmittelgesetz 15 Jahre Höchststrafe androht, ist rund die Hälfte aller Untersuchungshäftlinge wegen Drogenvorwürfen in Haft. Mit nichts anderem ist die Justiz dermaßen beschäftigt wie mit Drogenkriminalität. Doch ein erwünschter Effekt der Strafverfolgung, etwa eine geringere Nachfrage nach illegalen Betäubungsmitteln oder ein geringeres Angebot, ist nicht zu erkennen. Die Prohibition ist seit vier Jahrzehnten unwirksam.
Rechtsstaatlich wäre es, ein solchermaßen nutzloses Gesetz abzuschaffen oder jedenfalls entscheidend zu liberalisieren. Notwendig wäre öffentlicher Streit darüber. Nichts davon geschieht. Stattdessen erlauben der Gesetzgeber und die Rechtsprechung den Drogenfahndern und Strafverfolgern immer neue grundrechtseinschränkende Fahndungsmethoden. Inzwischen gibt es Handy-Überwachungen, Bewegungsbilder, Funkzellen-Auswertungen, Positionsbestimmung per GPS, Wanzen, IMSI-Catcher, Innenraum-Überwachungen, heimliche Durchsuchungen, elektronische Auswertung der Datenströme, Observationen, Strukturermittlungsverfahren, Video-Überwachungen, Finanzermittlungen, ausufernde Verfallsanordnungen von Geld und Wertsachen, Trojaner, ein weit verzweigtes V-Mann-Unwesen, den Zugriff auf ausländische Server ohne Rechtshilfe-Ersuchen, vorgefertigte Sperrerklärungen zur Aktenunterdrückung. Diese früher unbekannten, heute erlaubten oder ohne Erlaubnis angewendeten Mittel der Drogenfahndung machen die Polizei zum Herren des Verfahrens. Staatsanwälte und Gerichte begeben sich in die Hand der Drogenfahnder des Zolls und der Polizei. Deren Sondereinheiten verhalten sich äußerst konspirativ. Sie werden nicht mehr wirksam kontrolliert und erkennen nur ihre eigene Autorität an, sonst nichts.
Die immer neuen und immer wirksameren Überwachungsmaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen greifen seit Jahren erkennbar aus dem Betäubungsmittelbereich in andere Deliktgruppen über. Die Methodik und die Konspiration der Drogenfahndung sind zum Vorbild für die kriminalistische Arbeit auch in gewöhnlichen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geworden. Auch dort wird die staatsanwaltliche und gerichtliche Kontrollfunktion zunehmend eingeschränkt. Der polizeiliche Sachbearbeiter bestimmt das Geschehen, oft auch den Strafprozeß, nicht mehr die Staatsanwaltschaft oder das Gericht.
Zudem warten wir seit 20 Jahren auf die gesetzliche Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zur Straflosigkeit des Besitzes geringer Mengen Cannabis. Stattdessen wurde die materielle Strafbarkeit im Betäubungsmittelrecht immer weiter vorverlagert. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes reicht das ernsthafte Gespräch über ein Drogengeschäft zur Verwirklichung des Tatbestandes des vollendeten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Ansonsten geltende rechtsdogmatische Institute wie Versuch oder Rücktritt sucht man in der Rechtsprechung zum Betäubungsmittelgesetz ebenso vergeblich wie das tatsächliche Vorhandensein von Betäubungsmitteln als Bedingung einer Verurteilung.
Die Drogenprohibition verdrängt rechtsstaatliche Prinzipien und gefährdet damit den Rechtsstaat. Justiz und Gesetzgeber verweigern eine kritische Bestandsaufnahme. Die Gerichte lassen im Regelfall grenzwertige oder rechtswidrige Ermittlungsmethoden der Polizei sanktionslos durchlaufen. Die Vernachlässigung ihrer Kontrollfunktion rechtfertigen sie mit dem Argument: Je größer der Verdacht auf Drogenhandel, desto geringer die Voraussetzung zur Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und Beschuldigtenrechte. Die Gesetzgebung versagt ebenfalls als Korrektiv: Im Betäubungsmittelbereich folgt das Gesetz der polizeilichen Praxis, nicht die polizeiliche Praxis dem Gesetz.
Die Serie über die Mißachtung rechtsstaatlicher Prinzipien wird fortgesetzt.