Der Besuch war mehr als eine biographische Randnotiz. Nach fast 40 Jahren geheimdienstlicher Überwachung durch den Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« (VS) hatte der Ausflug für mich einen speziellen Reiz. In gewisser Weise fühlte ich auch Genugtuung, durch sämtliche Sicherheitsschleusen hindurch in die »Höhle des Löwen« vorgedrungen zu sein – oder anders ausgedrückt: ins kalte Herz einer geheim agierenden ideologischen Machtzentrale, von der aus meine jahrzehntelange Beobachtung so verbissen und zuverlässig organisiert und alle verdächtig erscheinenden Beobachtungen so akribisch registriert, gespeichert und ausgewertet worden sind. Noch heute liegt dort meine weit über 2.000 Seiten umfassende Personenakte im Panzerschrank, obwohl die Beobachtung seit Ende 2008 offiziell eingestellt wurde. Doch das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln, das die Überwachung nach einem über fünfjährigen Gerichtsverfahren für grundrechtswidrig erklärte, ist noch immer nicht rechtskräftig, weil die Bundesregierung die Zulassung der Berufung beantragte.
Wir trafen uns Ende September 2013 am Kölner Hauptbahnhof – vier Autoren, die erst kurz zuvor in der Berliner Bundespressekonferenz ihr Memorandum »Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein!« öffentlich vorgestellt hatten. Bepackt mit dieser von Bürgerrechtsorganisationen herausgegebenen Schrift bestiegen wir das Auto. Unser Ziel: Merianstraße 100, die Adresse des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), eines riesigen Gebäudekomplexes mit Gitterzäunen, Stacheldraht und Videokameras hoch gesichert.
Tatsächlich folgten wir einer Einladung des BfV-Präsidenten Hans-Georg Maaßen, den wir in seiner Behörde mit unserem Memorandum zur Auflösung des VS konfrontieren wollten. Maaßen ist seit August 2012 Chef des BfV. Der konservative Beamte kam ins Amt, als sein Vorgänger Heinz Fromm wegen der geschredderten NSU-Akten in den vorzeitigen Ruhestand geflüchtet war. Maaßen hat sich vorgenommen, seine festungsartig gesicherte Geheimbehörde als offen und dialogbereit zu präsentieren.
Vor dem Dialog mußten wir allerdings noch die Sicherheitsschleusen passieren und Ausweise zücken; Handys und Smartphones blieben vorsichtshalber im Kofferraum des Autos. Dann führte man uns durch lange Flure in einen Besprechungsraum, wo bereits der Hausherr und ein weiterer »Verfassungsschützer« auf uns warteten. Gleich zum Einstieg bannte ein Hausfotograf Gäste und Gastgeber auf Pressefotos, wie bei »Staatsbesuchen« üblich – zu welchem Zweck auch immer. Dabei überreichten wir das Memorandum in mehreren Exemplaren – unter der Bedingung, daß sie nicht in unsere Personenakten wandern, sondern der innerbehördlichen Aufklärung dienen sollen; gegen einen späteren Verbleib in der Hausbibliothek hatten wir nichts einzuwenden.
Danach folgte das Gespräch bei Kaffee und Keksen, die wir ohne Argwohn und übertriebene Vorsicht goutierten. Die gegenseitigen Überzeugungsversuche dauerten über zwei Stunden. Zunächst gab sich Präsident Maaßen alle Mühe, uns die Arbeit des VS vorzustellen. Dann versuchte er, uns die Notwendigkeit des VS als »unverzichtbaren Bestandteil der deutschen Sicherheitsarchitektur« und der »wehrhaften Demokratie« deutlich zu machen, »als wichtiges Instrument zur frühzeitigen Erkennung und Abwehr von Gefahren für die innere Sicherheit«. Und er sprach von einem inzwischen – als Konsequenz aus dem NSU-Skandal – eingeleiteten Reformprozeß und von einem Mentalitätswechsel unter den VS-Bediensteten.
Erwartungsgemäß gingen die Einschätzungen über Notwendigkeit und Reformfähigkeit des VS weit auseinander. Während die »Verfassungsschützer« den Begriff »Extremismus« als zentrale Kategorie für die Arbeit des VS verteidigten, sprachen die Autoren des Memorandums dem VS jegliche Legitimation ab, seine Aufgaben und Befugnisse auf einen solchen, legal nicht definierten politischen Kampfbegriff zu stützen: Mit extremen, selbst verfassungswidrigen Auffassungen Einzelner oder von Vereinigungen müsse sich ein demokratisches, auf Freiheit beruhendes Gemeinwesen zivilgesellschaftlich und mit politischen Mitteln auseinandersetzen. Exekutivbehörden wie etwa Geheimdienste seien im Vorfeld strafrechtlich relevanter Aussagen nicht befugt, die Grenzen der Meinungsfreiheit zu bestimmen und abweichende Auffassungen als »extremistisch« auszugrenzen und zu stigmatisieren.
Abwehr von Gefahren, Straftatenverhütung und -aufklärung ist und bleibt Aufgabe von Polizei und Justiz. Eines »Verfassungsschutzes« als »Frühwarnsystem« im weiten Vorfeld des Verdachts sowie möglicher Gefahren und Straftaten bedarf es nicht. Dieser Funktion sind die VS-Behörden im übrigen schon bisher nicht gerecht geworden; das belegen nicht zuletzt die NSU- und NSA-Skandale. Eine »Sicherheitslücke« würde ohne VS jedenfalls nicht entstehen.
BfV-Chef Maaßen, der sich als »ein Dienstleister für Demokratie« versteht, beharrt auf der Schutzfunktion des VS: »Die nachrichtendienstliche Aufklärung terroristischer und extremistischer Bestrebungen dient dem Schutz unseres freiheitlichen Rechtsstaats und von Leib und Leben der Menschen in Deutschland.« Da kennt sich Herr Maaßen aus – als ehemaliger Chef der »Terrorismusbekämpfung« in der Abteilung Öffentliche Sicherheit sowie als ehemaliger Referatsleiter für Ausländerrecht im Bundesinnenministerium hat er sich bereits den Ruf eines sicherheitspolitischen »Hardliners« erworben. Im Herbst 2002 war Maaßen mitverantwortlich dafür, daß der im US-Gefangenenlager Guantanamo festgehaltene Bremer Murat Kurnaz nicht nach Deutschland zurückgeholt wurde. Maaßen argumentierte seinerzeit, Kurnaz’ unbegrenztes Aufenthaltsrecht in Deutschland sei verfallen, da er mehr als sechs Monate außer Landes gewesen sei und sich nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet habe. Maaßen wußte, daß Kurnaz sich gar nicht melden konnte, weil er auf Guantanamo unter Folterbedingungen unschuldig eingesperrt war. Der Bremer VS hatte ihn als angebliches »terroristisches Sicherheitsrisiko« eingestuft. All dies trug dazu bei, daß Kurnaz’ Martyrium im US-Foltercamp Guantanamo viereinhalb Jahre dauerte.
Während wir Memorandums-Autoren eine demokratische Kontrolle von geheim arbeitenden VS-Behörden prinzipiell für unmöglich halten, glaubt die BfV-Führung an die Reformfähigkeit des VS. Sie zeigte sich sogar verwundert darüber, daß parlamentarische und andere Kontrollgremien von ihren Kontrollrechten gegenüber dem VS nicht häufiger und intensiver Gebrauch machen. Vor diesem Hintergrund hielten sie selbst die Einsetzung eines unabhängigen Beauftragten für Geheimdienste mit entsprechenden Ressourcen und Befugnissen für diskutabel.
Die Kontroverse im Hochsicherheitsbereich des BfV dürfte eine Premiere gewesen sein. Noch nie sind radikale Kritiker, die die Auflösung des VS propagieren, ins Innere des BfV gelangt und konnten dort einen VS-Präsidenten zum Disput herausfordern. Vor kurzem galt ich dem BfV gerade mit meiner Forderung nach (sozialverträglicher) Auflösung noch als »Verfassungsfeind«, der den Staat gegen seine Feinde wehrlos machen wolle. Was hat sich seither getan? Steht der VS nach NSU- und NSA-Skandalen derart unter Druck, daß er jetzt seine vorgebliche »Offenheit« und »Transparenz« demonstrieren, seine »Dialogbereitschaft« zelebrieren muß? Dieser Schluß liegt nahe: Denn noch während unserer Heimreise gab das BfV eine Pressemitteilung heraus mit der Überschrift: »Kritiker des BfV zu Besuch«. Darin ist zu lesen, daß der BfV-Präsident den Austausch auch mit Kritikern des VS für wichtig halte. Der Offenheitsoffensive haben wir allerdings postwendend widersprochen, schließlich kam das Gespräch nur zustande, weil sich Herr Maaßen zuvor einer medienöffentlichen Debatte über unsere Forderung nach Auflösung des VS verweigert hatte. Von der »neuen Offenheit« war auch keine Rede mehr, als wir um eine Besichtigung des Bundesamts baten. Dem Wunsch könne leider nicht entsprochen werden, da es sich um einen »sicherheitsempfindlichen Bereich« handele. Na bitte!
Überall in der Republik spürt man den »neuen Wind«, doch die Luft bleibt schlecht: Eine regelrechte Charme- und Transparenzoffensive ist bundesweit gestartet worden, die allerdings wie eine Imagekampagne daherkommt, hinter der sich in ihrer Substanz unangetastete Geheimdienste verstecken – so wie bislang hinter ihrem Tarnnamen »Verfassungsschutz«. Sie schicken sich gerade an, aus der Krise abermals gestärkt hervorzugehen, wie es auch die Großkoalitionäre auf Bundesebene vereinbart haben.
Humanistische Union, Internationale Liga für Menschenrechte, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen (Hg.): »Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! Gemeinsames Memorandum«, 84 Seiten. Bezug unter: www.verfassung-schuetzen.de. Auf der Website kann auch der Aufruf zur Abschaffung der VS-Behörden unterzeichnet werden.