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Titel022014

Bemerkungen

Aufruf

Wir müssen
nie Getanes tun.

Wir müssen
nie Gesagtes
sagen.

Wozu
sind wir
denn sonst
jetzt hier?

Renate Schoof


Keine Schlitterpartie
Einhundert Jahre seit dem »Ausbruch« einer historisch-politischen »Urkatastrophe« – das Jahr 1914 verlangt seinen Tribut im öffentlichen Gedächtnis, und an Offerten im Buchmarkt wie auch in der Ausstellungsbranche fehlt es nicht. Keineswegs ist damit ohne weiteres ein Zugewinn an kritischer Einsicht in die Realität dieses ersten modernen Krieges gewährleistet, und die museale Vergegenwärtigung von Geschichte lenkt nur zu oft ab von deren bis heute wirksamen Triebkräften.

Offensichtlich ist die Sichtweise auf 1914 nach wie vor strittig – besonders im deutschen Geschichtsbewußtsein (s. dazu »Ein deutschnationaler Bestseller«, Ossietzky 22/13). Ist das Deutsche Reich in den Ersten Weltkrieg »hineingeschlittert«, nicht anders als seine Verbündeten wie auch seine Gegner damals? Der Begriff eines historischen »deutschen Sonderweges« hat seine Fragwürdigkeit, wenn damit unterstellt wird, andere europäische Staaten, vor allem Britannien und Frankreich, hätten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein Muster für die Entwicklung hin zu Demokratie und Friedenspolitik vorgegeben. Auch diese Staaten agierten in der Epoche vor 1914 imperialistisch, und sie waren bereit zu kriegerischen Handlungen. Aber die deutsche Geschichte hatte ihre politische Spezifik: Die Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 geschah als Ertrag eines siegreichen Krieges gegen Frankreich und in der Vorherrschaft Preußens, das durch militärische Traditionen geprägt war. Der rasche Aufschwung Deutschlands vor 1914 zu einer Industriemacht verband sich mit Ansprüchen auf einen »Platz an der Sonne« in der Weltpolitik und -wirtschaft, die militärische Mittel der Expansion einkalkulierten. Dem entsprach auch der Ausbau der deutschen Rüstungsindustrie, ebenso die Entscheidung für Deutschland als »Seemacht«. Kriegsfähigkeit herzustellen war ein Grundmuster der wilhelminischen Staats- und Gesellschaftspolitik. Gestützt auf die allgemeine Wehrpflicht sollte das Militär als »Schule der Nation« fungieren. Reservistenverbände, Kriegervereine, studentische Korporationen, Turnerschaften und andere Organisationen waren darauf ausgerichtet, »soldatische Tugenden« zu pflegen. »Heldengedenktage«, patriotische Erbauungsliteratur und nationalistischer Liederschatz sorgten ebenso wie schulische Unterweisungen für die mentale Vorbereitung eines neuen »Waffenganges«.

Heinrich Manns Roman »Der Untertan« gibt ein durchaus realistisches Bild der Stimmungen in weiten Teilen des damaligen deutschen Bürgertums, eingeschlossen dessen Intelligenzschicht. Nicht von ungefähr feierten zahlreiche deutsche Denker und Dichter den Kriegsbeginn 1914 als freudigen »Ernstfall«, als ersehnte »Stunde der Bewährung«. Wer sich darüber näher informieren will, dem sei zur Lektüre Wolfram Wettes Beitrag »1914 – Der deutsche Wille zum Zukunftskrieg« in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Heft 1/14, empfohlen.
A. K.


100 Jahre jung
Wenn diese Aufsatzsammlung dazu führt, daß die ökonomischen Hauptwerke von Rosa Luxemburg 100 Jahre nach dem Erscheinen ihrer »Akkumulation des Kapitals« wieder stärker gelesen und in ihren aktuellen Bezügen begriffen werden, hat sie einen großen Beitrag zum Verständnis unserer gegenwärtigen Krise geleistet.

Drei Arbeiten Rosa Luxemburgs – allesamt vereint im Band 5 ihrer in der DDR erschienenen »Werke« – ragen aus der Vielzahl ihrer Schriften in ökonomischer Hinsicht hervor: Ihre »Einführung in die Nationalökonomie« – ein erst posthum veröffentlichtes Fragment, ihre 1913 herausgegebene »Akkumulation des Kapitals« und schließlich die 1921 erschienene Verteidigung dieser Schrift gegen ihre Kritiker, die als »Antikritik« bekannt geworden ist. Ingo Schmidt und fünf weitere Autoren beleuchten nicht nur die geschichtlichen Aspekte der Werke, sondern vor allem ihre aktuellen Bezüge. Schmidt bemerkt mit Hinweis auf die sich seit Jahren hinziehende Stagnation der kapitalistischen Weltwirtschaft, daß damit die vielfach auch von sozialistischen Kräften bestrittene These von Luxemburg wieder mehr Aufmerksamkeit verdiene, »daß die Akkumulation des Kapitals der Expansion in nicht-kapitalistische Räume bedürfe«. Luxemburg hatte vor 100 Jahren die damalige Stagnationsperiode des Kapitalismus untersucht und dabei auf seine Schranken sowie seine Zwanghaftigkeit verwiesen, in bisher noch nicht kapitalisierte Räume vorzustoßen. Im Nachhinein erscheint die Periode zwischen damals und heute mit ihren tiefen Zerstörungsorgien zwischen 1914 und 1945 und den nachfolgenden Wiederaufbau-Prosperitäten sowie der Re-Integration nichtkapitalistischer Räume nach 1989 nur als Unterbrechung dieser damals deutlich gewordenen Grundtendenz.

Mit der Expansion in nichtkapitalistische Räume als ökonomischer Notwendigkeit für das Überleben des Kapitalismus ist nicht nur die geographische Expansion gemeint, sondern auch das Erschließen von Sphären wie Hausarbeit, bisher nicht-profitorientierter Bereiche der Daseinsvorsorge oder Pflege-, Bildungs- und Gesundheitsbereiche, die mit Erlahmen der inneren Expansionskraft seit Auslaufen der Wiederaufbaukonjunktur unter den Profitpflug genommen wurden.

Vieles, was an fruchtbaren Gedanken bei Luxemburg bereits angelegt ist, aber durch ihre frühe Ermordung nicht ausreifen konnte, hebt dieses wichtige kleine Buch in die aktuelle Diskussion – etwa den Gedanken von Klaus Dörre: »Wenn der Kapitalismus nicht in Reinform existieren kann, so lassen sich auch die Gegenbewegungen nicht auf organisierte sozialistische oder gewerkschaftliche Arbeiterbewegungen reduzieren.«

Kurz und gut: Das Buch ist eine Fundgrube – und eine starke Aufforderung, die Luxemburg-Werke Band 5 (wieder) zur Hand zu nehmen.
Manfred Sohn

Ingo Schmidt (Hg.): »Rosa Luxemburgs ›Akkumulation des Kapitals‹. Die Aktualität von ökonomischer Theorie, Imperialismuserklärung und Klassenanalyse«, VSA Verlag, 165 Seiten, 16,80 €


Verheerendes Event
Noch bevor das Feuer auf Schloß Ehrenstein in Ohrdruf in Thüringen Schauergefühle ausbreitete, kritisierte in einem Podiumsgespräch eine Kuratorin aus Gera: Kein Mensch interessiere sich für das Sehenswerte der Höhler-Biennale, aber alle im Lande seien entsetzt, wenn in Gera alle Museen und Bibliotheken zugemacht werden! Darauf fragte eine Künstlerin aus Schlotheim, ob sie ihr Atelier in Brand setzen solle, um Aufmerksamkeit für sich zu wecken, denn das hätte mit dem Brand der Anna-Amalia-Bibliothek 2004 auch geklappt. Das Event einer Brandnacht benötigten die untreuen Hirten, um zu begreifen, daß sie die ihnen anvertrauten kulturellen Güter vor Schaden bewahren müssen. Der Nachtwächter aus Zeiten der DDR war abgeschafft worden, um eine winzige Geldsumme zu sparen. Der Schaden des Brandes betrug viele Millionen. Niemand habe ihn schuldhaft mitverursacht. Mancher fand den Brand insofern positiv, als durch ihn die Anna-Amalia-Bibliothek berühmt geworden sei.

Wenn ein Schaden als Event erscheint und das ihm zugrundeliegende Verhalten als fahrlässig, statt strafbar verantwortungslos eingeschätzt wird, liegt die gesellschaftliche Wahrnehmung schief. Das Ohrdrufer Renaissanceschloß, errichtet unter dem Grafen von Gleichen im 16. Jahrhundert, wurde seit 1974, doch vor allem in den letzten 23 Jahren allmählich saniert. Heimatmuseum, Archiv, Bibliothek und Ausstellungen, die militärgeschichtliche zum Truppenübungsplatz und die liebevoll zusammengetragenen Schaukelpferd- und Teddy-Sammlungen, zogen in vielen Jahren ein und in den Flammen einer Stunde wieder aus. Zwei der vier Flügel des Schlosses Ehrenstein sind niedergebrannt. Über zehn Millionen Euro kostet der Wiederaufbau, der von der Versicherung – im Zeitwert! – bezahlt wird. Zwar kann die Arbeit der Handwerker schon beginnen, doch es werden dringend Spenden benötigt. Ein Gewinn fordert Schlußfolgerungen. Ein Bautechniker sagt, er gehe immer wieder zum Schloßturm, der wie der Nordflügel mit Bürgersaal nicht abgebrannt ist und für den er in seiner Abschlußarbeit eine Eisen- statt einer Holztreppe projektiert hat. Wie viele versucht er zu begreifen, was passiert ist. Wieso konnten Brände ständig, wie 2006 beim Erfurter Hause Dacheröden, gerade bei Fertigstellung ausbrechen? Warum konnten die Handwerkskammer und andere Behörden den Umgang mit Brennern nicht ausschließen und auch die Zeittreiberei? Weshalb ist keine ständige Feuerwehr-Beobachtung gefordert?
Peter Arlt


Ist das Kunst oder kann das weg?
Julia aus dem herrschaftlichen Hause Capulet in Verona war vierzehn Jahre alt, als sie sich verliebte, unsterblich, in den wenig älteren Romeo aus der tödlich konkurrierenden Familie Montague. William Shakespeare war um die achtundzwanzig, als sein Stück »Romeo and Juliet« im Jahr 1596 zum ersten Mal aufgeführt wurde, nebenbei: ein Reinfall. Es geht also um Teenager-Liebe und einen Twen, der sie dramatisiert.

Mittlerweile war das Stück zu einem kultischen Höhepunkt der bildungsbürgerlichen Verehrung des literarischen Gottes Shakespeare geworden, zualleroberst studienrätlich sanktioniert. (Der Dichter selbst konsequent im Himmel der urkundlich kaum nachweisbaren Heiligen gelandet: »Shakespeares Werke sind nicht von Shakespeare, sondern von einem anderen Autor, der auch Shakespeare hieß«, kalauerten die Deutschlehrer gerne.)

Erst im 21. Jahrhundert findet sich Lars Eidinger (komplette 37 Jahre alt) an der Schaubühne in Berlin, um das Stück den Teenagern zurückzugeben. Er läßt Iris Becher als Julia und Moritz Gottwald als Romeo auf dem Hochbett (ja gewiß – auch wenn wir Zuschauer/innen dieses Möbel hauptsächlich von Achtundsechziger-Kinderläden kennen) die ersten Vorfreuden der körperlichen Liebe ausprobieren. Er läßt Iza Mortag Freund und James Brook, gerne in knappsten Leder-Slips oder sonstigen hautengen Outfits, mit angepunkter Musik auf der Bühne beweisen, daß nicht nur Bushido das kann. Er läßt »Jungs« und »Mädchen« sich so oft in den Schritt greifen, daß es dem Publikum ein ganz klein wenig zu viel wird. Nicht dumm oder unerfahren, der Eidinger: Immer nur ein ganz klein wenig überzieht er das Interesse des altersgemischten Publikums, dafür aber regelmäßig. Nie wirklich viel zuviel des Teenie-Gegrabsches oder -Gequatsches, aber verläßlich. Mercutio und Benvolio, gegeben von Tilman Strauß und Bernardo Arias Porras, lassen kaum eine Obszönität aus, die für pubertierende Jungs obligatorisch ist. Dazu humoristisch herrlich vor allem Julias Mutter, als Lady Capulet die Spießerin vom Dienst: Regine Zimmermann, die uns alle an die gestrenge Hauswartin oder arrogante Großtante erinnert. Ein Hoch auf Eidinger: Shakespeares Drama ist nun befreit von den mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen, dynastisch-juristischen Herrschafts-Konkurrenzen adeliger Häuser, und die Gefühle haben ihren freien Lauf.

Doch auch im 21. Jahrhundert und trotz oder wegen Eidinger können wir Romeo und Julia als große Klassik empfinden, auch wenn die bildungsbürgerliche Signatur abgehobelt ist: Shakespeares Texte, in ihrem Rhythmus, sind auch in dieser Inszenierung zu hören, »sogar« in der althergebrachten Schlegelschen Übersetzung. (Wenn im Programmheft zu lesen ist »Deutsch von Thomas Brasch«, so meint das dessen beigesteuerte, gelungene Verse.)

Selbstverständlich wird das große tragische Schlußepos nach dem schrecklichen Tod der beiden alsbald von reichlich blutrotem Wasserschlauchstrahl ergänzt, soviel Teenie-Geist muß sein.

Chapeau, Schaubühne!
Brigitte Heimannsberg/
Richard Herding


Menschlich
Nicht erst seit man sogar Telefonnummern via Internet recherchieren kann, schwächelt der bundesdeutsche Trend zum Zweitbuch. Sarkasmus beiseite: In allen sozialen Schichten verliert das Buch seinen Rang, hauptsächlich infolge der Überflutung mit elektronischen Informations- und Unterhaltungsangeboten. Es gibt zudem Unmengen von Büchern, die man normalerweise schon deshalb nicht zur Hand nimmt, weil man sich als zu »erwachsen« dafür betrachtet.

In »meiner« Buchhandlung hatte ich bisher zum Beispiel das Regal mit Science Fiction unbeachtet gelassen. Bis ich dieser Tage ein Geschenk für einen meiner Enkel zu suchen hatte, der auf das besagte Genre geradezu versessen ist. Ich wurde fündig – und angenehm überrascht. Der Band »Octo Sapiens« fiel mir nicht nur wegen des lateinischen Titels und seines bereits beim diagonalen Lesen erkennbaren sozialkritischen Ansatzes auf, sondern auch wegen seines Autors.

Es mag ungewöhnlich erscheinen, einen Verfasser noch vor seinem Werk vorzustellen. Robert Lauerbach und ich sind uns mehrmals in unterschiedlichen Weltgegenden begegnet. Mit Blick auf seinen beruflichen Weg verstehe ich gut, warum er sich jetzt, schon reichlich betagt, aufs Schreiben verlegt und ein solches Buch dabei zustande kam. Lauerbach, von Haus aus Chemieingenieur, zog nach etlichen Erfahrungen in der Industrie einen Schlußstrich und studierte Human Resource Management in Genf. Fortan und bis zum Renteneintritt engagierte er sich in Asien und Afrika, und zwar im Rahmen von Projekten der Vereinten Nationen. Und er litt darunter, wie umfassend Entwicklungshilfe mißbraucht wird und wie wenig davon bei den Bedürftigen der Welt ankommt.

Seine Erfahrungen formten Lauerbach zu einem Humanisten, dessen sozialkritische Einstellung nun in seinem Erstlingswerk »Octo Sapiens – Die Begegnung« zum Ausdruck kommt. Er projiziert den Traum von einer besseren Gesellschaft in den interstellaren Raum, auf den fiktiven Planeten »Octa«. Dessen Bewohner, die »Octonen«, sind achtgliedrige, in jeder Hinsicht hochentwickelte Wesen, die der Unmenschlichkeit der Erdbewohner voller Entsetzen gegenüberstehen, nachdem sie über mehrere Generationen hinweg die Vorgänge auf der Erde beobachtet haben. Sie befinden: »Es scheint, das menschliche Gehirn ist aufgrund umweltrelevanter Herausforderungen zu schnell gewachsen. Um im Evolutionskampf erfolgreich zu sein, bildeten sich die für technische Fähigkeiten erforderlichen Hirnstrukturen schneller aus als die Bereiche, die für die systematische Entwicklung von Sozialkompetenzen notwendig sind.« Umgekehrt reagieren Lauerbachs »Erdlinge« mit Furcht, Aggressivität und Zurückweisung auf die Kontaktversuche der exterrestrischen Wesen. Das Ende seiner Geschichte: Ein riesiger Asteroid auf Kollisionskurs zur Erde zwingt die Menschen zu einem interplanetaren Auswanderungsprogramm; es besteht Aussicht, daß sie von Außerirdischen eine Chance zum Erlernen von Mitmenschlichkeit erhalten …

Naives Sujet? Mag sein. Mir ist anteilnehmende Naivität eines Schreibenden aber wesentlich sympathischer als das meiste, auf unsere Realität bezogene mediale Geschwätz. Gesellschaftskritik, interessant und phantasievoll verpackt, warum nicht? Wenn man intelligent und spannend sozialkritisches, politisches Bewußtsein initiieren oder schärfen kann – nicht nur das von Jugendlichen – dann erweist sich »Octo sapiens« als realistische, sinn- und verantwortungsvolle Lektüre.
Volker Bräutigam

Robert Lauerbach: »Octo sapiens – Die Begegnung«, Verlag CreateSpace Independent Publishing Platform, 204 Seiten, 9 €


Von Abraham bis Netanjahu
Nun ist der zweite Band da, wieder ein Wälzer, wieder eine Fundgrube und: ein Ereignis. Da hat sich eine Schriftstellerin aufgemacht, die lange und verwirrende Geschichte der Juden von Abraham bis Netanjahu zu schreiben, und es wird nicht nur ein seriöses Geschichts-, auch ein Geschichten-Buch! Und es gibt nicht nur Jugendlichen viel, auch die Älteren werden nicht aufhören können zu lesen, zu blättern, nachzuschlagen. Eine Menge Fakten, dazu sachkundige Kommentare, zum Teil durch Zitate von Fachleuten gestützt, und dazu – damit es spannend, bunt und emotional wird – von der Autorin erfundene Miniaturen, die das beschriebene Ereignis sinnlich machen. Wie reich an Persönlichkeiten und Ideen sind die Juden! Wie viele sind vergessen und wie viele gehören zur Elite der Weltgeschichte! Nicht immer sind sie vertrieben, verfolgt und beschimpft worden, es gab Lichtblicke in ihrer Geschichte, und sie waren so intelligent und zäh, sie zu nutzen. Waldtraut Lewin erklärt die Besonderheiten der Religion und Kultur, erzählt Witze und verstummt nicht, als die Katastrophe des 20. Jahrhunderts hereinbricht, die alles Schlimme, das es bisher schon gab, übertrifft. Sie beschreibt Ghetto und Lager, sie nennt die Zahlen der Toten und Übriggebliebenen, sie läßt nichts aus, nicht die Schuld der Täter oder der Augenzeugen, aber auch nicht die Helden, die widerstanden. Sie hört da nicht auf, denn die Geschichte der Juden geht weiter – in Amerika, Euro-pa, Israel. Wieder ist nichts einfach. Waldtraut Lewin liefert die Fakten.
Christel Berger

Waldtraut Lewin: »Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der Juden«, 2 Bände, Bouvier Verlag, 760/720 Seiten, je 24,99 €


Berlin – Wladiwostok per Rad
Von Tschita nach Chabarowsk – 2000 Kilometer, die ich wegen der geringen Besiedlung und wenigen Versorgungsmöglichkeiten gefürchtet habe. Die Freundlichkeit und Solidarität, die ich unterwegs erfuhr, machten den Abschnitt für mich zum interessantesten.

In Sbega, einem sibirischen Dorf, verbrachte ich einen ganzen Tag. Ich entschloß mich, den russischen Schulbetrieb in Augenschein zu nehmen. Direktor und Lehrerkollegium waren spontan dazu bereit, mich in den Unterricht zu integrieren. Nach einer Fragerunde in der Schulbibliothek beteiligte ich mich aktiv am Sportunterricht. Daß es immer wieder Deckungsgleichheiten im Zustand unserer Gesellschaften gibt, konnte ich feststellen, als ich die Anwesenheit einer 10. Klasse wahrnahm: einige Schüler waren »Geld anschaffen«, einige zogen berufsorientierte Praktika vor, einige schwänzten, so daß sie nur zu siebent waren.

In Amasar, 200 km weiter, wurde ich gebeten, interessierten SchülerInnen der 11. Klasse Rede und Antwort zu stehen. Der Empfang war grandios: Auf den Stufen des Schulgebäudes standen die Jugendlichen Spalier und applaudierten bei meinem Eintreffen. Der Klassenraum war wie zur Teestunde vorbereitet, und die Fragen wollten kein Ende nehmen. Meine Besuche in Schulen oder Bildungseinrichtungen wiederholten sich noch zweimal, ich hätte sie öfter haben können, aber die Zeit drängte.

Da Hotels auf diesem Abschnitt rar sind, ergaben sich die unterschiedlichsten Übernachtungsmöglichkeiten: Feuerwehr, Stadion, Clubhaus, Journalistenwohnung, Sportschule und Wohnheim der Straßenbauverwaltung. Schlief ich im Hotel, teilte ich mein Zimmer mit anderen Reisenden.

Vor Magotschi setzte sich eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung, die einen Hotelplatz für mich gebucht hatte, mit mir in Verbindung. Die Angestellte, eine schlecht bezahlte verheiratete junge Frau, lebte selbst im Wohnheim und versuchte verzweifelt mit ihrem Mann, das Grundkapital für eine Eigentumswohnung, wie es in Rußland üblich ist, zu ersparen. Die finanziellen Verhältnisse der Menschen im Fernen Osten sind zum Teil katastrophal. Wer eine Arbeit hat, muß sich mitunter mit weniger als umgerechnet 200 Euro Monatslohn zufrieden geben ­ bei annähernd gleichen Warenpreisen wie in Deutschland. Die Sehnsucht derer, die dieser Lage entfliehen wollen, bleibt unerfüllt.

Doch wenn du als Ausländer zu Gast bei Russen bist, wollen sie sich, das ist bei uns nicht anders, von der besten Seite zeigen. Sie stellen dir (oft) ihr bestes Zimmer zur Verfügung, tafeln auf, wollen dir die Sehenswürdigkeiten ihrer Ortschaft zeigen. Sie wollen wissen, wie du über sie denkst und was dich antreibt, hier unterwegs zu sein. Die Medien, die auch im Fernen Osten über Neuigkeiten unterrichten, fallen da nicht aus dem Rahmen. Meiner Bereitschaft, Rede und Antwort zu stehen, entsprachen sie oft mit großzügigen Hilfsangeboten: Da wurde mir in Schimanowsk und Bjelogorsk neben der Unterkunft ein Auto mit Chauffeur zu Diensten gestellt, um mich mit der Stadt bekanntzumachen. Bei eventuellen Problemen mit dem Rad wurde Hilfe angeboten, noch Tage später erkundigte sich eine Journalistin nach meinen Übernachtungsmöglichkeiten. Es wurden offizielle Essen veranstaltet und Präsente verteilt, so daß ich mir beim Austausch der Aufmerksamkeiten mit meinen Berlinaufklebern fast kläglich vorkam. Manchmal fragte ich mich, wie ich dazu komme, und ich weiß es bis heute nicht ganz. Aber ich weiß, daß mir das Interesse für das Leben der Menschen und die Kenntnis ihrer Sprache viel ermöglichten.
Uwe Meißner


Walter Kaufmanns Lektüre
Hier zeigt einer, der es kann, wie man es macht. Jens Mühlings Reportage »Mein Russisches Abenteuer« offenbart Sprachvermögen, Beobachtungsgabe, Erzähltalent, Beharrlichkeit auch und die Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Immer wieder gelingt es Mühling, zum Außergewöhnlichen vorzustoßen. Und daraus Alltägliches zu beleuchten – russisches Leben wie es wirklich ist! Der Weg ist das Ziel: Was erfährt dieser Mann (und was widerfährt ihm) nicht alles auf der Suche nach jener Einsiedlerin, die seit ihrer Geburt in der Taiga lebt und erst als Erwachsene zu ahnen beginnt, daß es auch jenseits der sibirischen Wälder ein Leben gibt. Bootsfahrten auf wilden Flüssen hat er zu überstehen und tagelange Fußmärsche durch die Wildnis. Ohne seine Sprachkenntnisse wäre er nur schwerlich dahintergekommen, was eine Schar entschlossener Kommunisten bewegt, rund um die Uhr ein Lenindenkmal vor weiterer Zerstörung zu bewahren – weiterer Zerstörung? Ein Nationalist hatte dem steinernen Lenin die Nase abgeschlagen, und Mühling findet heraus, daß der Täter Gewalt und Verbannung und die Exekution seines Bruders erlebt hat, was ihm das Denkmal hassenswert macht.

Herausfinden und Erkenntnisse daraus ziehen ist Mühling gegeben – und er blickt durch! Allein an der Haltung, dem Gebaren eines einstigen Schergen des stalinistischen Gewaltapparats offenbart sich ihm dessen Mitschuld am Mord einer Reihe von Priestern – die Ausgrabung der durchschossenen Schädel hindert den Mann auch weiterhin nicht, seine Mitschuld abzustreiten, obwohl er nachweislich dabei war, als die Geistlichen ermordet wurden. Und stets gelingt es Mühling, seine Entdeckungen mit historischem Wissen zu untermauern. Während er sich von dem vermeintlichen Nachfahren eines Überlebenden das Massaker an der Zarenfamilie schildern läßt, rollen vor seinem inneren Auge grausamste Geschehnisse ab – da kriecht der junge Alexej Romanow unter dem Leichenberg seiner Familie hervor, flieht von dem Laster, auf dem die Toten abtransportiert werden, eine ihm nachgeschleuderte Handgranate verletzt ihn am Bein, er entkommt, findet Unterschlupf bei Menschen, die ihn gesundpflegen und später an ein Schusterehepaar weiterreichen, das den Jungen an Kindes Statt annimmt ... Dies nur ein Faden im Gewebe von Mühlings erstaunlicher Reportage. Es tauchen Menschen auf, die sich weigerten, das Umfeld der Tschernobyl-Katastrophe zu verlassen, und dort in ihrem Gottvertrauen weit ruhiger leben als abertausend Zwangsevakuierte. Wir bekommen das Verschieben und Verhökern ungezählter Ikonen mit – wer sind die Abnehmer? Und erleben, wie das Verschwinden des russischen Soldaten Jewgenij im Tschetschenienkrieg die Mutter einen langen Leidensweg antreten läßt – die Suche scheitert. Neben gastfreundlichen Russen tauchen auch solche auf, die Mühling mit prahlerischen, nie zu haltenden Versprechungen bedrängen, er trifft auf Alkoholiker, die sich um den Verstand gesoffen haben, und auf Ehemänner, die ihre Frauen schlagen, weil sie ihnen geistig unterlegen sind. Am Don stößt er auf Kosaken, die in ihrem Haß auf Stalin der Wehrmacht gedient haben – und stolz darauf geblieben sind. Mühling beschert mit seinem Buch Einblicke in Rußland einst und Rußland heute und ein Leseerlebnis der besonderen Art.
Walter Kaufmann

Jens Mühling: »Mein russisches Abenteuer«, Dumont Verlag, 350 Seiten, 19,99 €



Zuschrift an die Lokalpresse
In den Tageszeitungen und in den Fernseh- und Rundfunkberichten ist wieder mal viel von Ausländerunterkünften und Abschiebungen zu hören und zu lesen. Manchmal kommt es vor den Heimen zu Krawallen, aber die gehen meistens nicht von den Bewohnern aus, sondern von den deutschen Patrioten, die gegen die Überfremdung sind. Es ist ja auch für die Behörden nicht leicht, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen, jeder Fall liegt anders. Zum Beispiel die Bulgaren in der alten Berliner Eisfabrik in der Köpenicker Straße, die sollten das Haus wegen Baufälligkeit verlassen, aber jetzt sind sie immer noch in der Ruine. Da hatte es der ehemalige russische Milliardär, der wegen seiner Steuerbetrügereien eine hohe Gefängnisstrafe absaß, leichter. Kurz vor Weihnachten ist er vom Präsidenten Putin begnadigt worden, und schon einen Tag später durfte er in die Bundesrepublik einreisen und im »Adlon« ein Nobelquartier beziehen. Da hatte selbst der ehemalige Außenminister Genscher mit dran gedreht. Dagegen hat unsere Regierung den Herrn Snowden, der den USA-Abhörskandal aufgedeckt hat, nicht reingelassen, obwohl das doch vernünftig war, was der gemacht hat. Selbst die Frau Bundeskanzlerin Merkel hat doch mächtig gegen das Abhören ihres Handys gewettert, da hätte die dem Herrn Snowden doch im »Adlon« eigenhändig das Bett aufschütteln müssen.

Also, wenn es an den Kosten liegt, ich würde Herrn Snowden auf meinem Ausziehbett in der Küche ein paar Tage unterbringen, wenn ich damit meiner Regierung Kosten sparen kann. – Hannes Hörig (70), Rentner, 98724 Lauscha
Wolfgang Helfritsch