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Titel215

Gedanken über Charlie  (Christophe Zerpka)

Der Presse geht es schlecht. Zeitungen verschwinden oder konvertieren digital. Oder werden von reichen Industriellen als schmückendes Beiwerk aufgekauft. Am 7. Januar 2015 bekommt der Begriff »Zeitungssterben« einen blutigen Geschmack. Ein langer Tisch mit erschossenen Redakteuren. Ein kleines Satireblatt mit einem großen Namen. Ein werbefreies Wochenblatt mit heftigen redaktionellen Auseinandersetzungen und großen finanziellen Problemen. Charlie Hebdo ist nicht tot. Aber was kommt nach der Millionenauflage, nach den weltweiten Sympathiebekundungen?


Unfreiwilliger Gründervater war ein toter General. Als Charles de Gaulle im November 1970 starb, titelte die Satirezeitung Hara-Kiri in Anlehnung an die Schlagzeilen über einen Großbrand in einem Tanzlokal mit mehr als 140 Toten: Tragischer Ball in Colombey – 1 Toter. Die Zeitung wird verboten. Die Redakteure umgehen das Verbot mit einem neuen Titel, der die amerikanische Comicfigur Charlie Brown zum Paten nimmt, aber natürlich auch Charles de Gaulle. Wie schon bei Hara-Kiri ist auch bei Charlie der Schriftsteller und Zeichner François Cavanna die treibende Kraft, sein Name bürgt für einen linken Nonkonformismus mit stark anarchistischen Zügen. 1981 muß das Blatt wegen Lesermangels eingestellt werden.


Eine Wiedergeburt geschieht im Juli 1992, Auslöser war ein Streit in der Redaktion der Satirezeitung La Grosse Bertha. Es waren wieder die großen Namen, welche dem neuen Charlie eine Auflage von 120.000 verschafften: Cavanna, die Karikaturisten Siné, Cabu, Gébé, Willem, Wolinski. Es wird eine Aktiengesellschaft gegründet, bei der die Belegschaft eine Mehrheit von 80 Prozent besitzt: Les Éditions Kalachnikof!


Unter Chefredakteur Philippe Val rückt die Zeitung weiter nach links, ohne sich jedoch einer politischen Partei anzunähern. Einige Redakteure und freie Mitarbeiter verlassen deshalb Charlie Hebdo, andere werden entlassen. Im November 2002 kommt es zum ersten Mal zu Polemiken über jenes Thema, welches zwölf Jahre später so fatale Folgen haben sollte. Der Philosoph Robert Misrahi hatte sich in einem Gastbeitrag kritisch mit dem Islam auseinandergesetzt. Der Satz, an dem viele Anstoß nehmen: »Man will es weder sehen noch klar verurteilen, daß es der Islam ist, der einen Kreuzzug gegen den Westen führt und nicht umgekehrt.« Philippe Val distanziert sich von jenen Linken, die sich aus Opposition zu den USA weigern, die militanten Islamisten zu bekämpfen. Am 8. Februar 2006 schnellt die Auflage von 140.000 auf 160.000, weitere 400.000 Exemplare werden nachgedruckt: Charlie Hebdo hat die Mohammed-Karikaturen aus der dänischen Zeitung Jyllands-Posten übernommen. Es gibt heftige Proteste und Strafanzeigen von Seiten muslimischer Organisationen, der Kulturminister stellt sich hinter die Redaktion.


Die Zeitung hat in den folgenden Jahren mit einer sinkenden Auflage zu kämpfen, eine Preiserhöhung verbessert die Lage nur kurzfristig. 2011 liegt die verkaufte Auflage nur noch bei 48.000, in der Nacht zum 2. November werden zudem die Redaktionsräume durch einen Brandanschlag zerstört. Am 19. September 2012 löst Charlie Hebdo durch die erneute Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen eine heftige Polemik aus. Islamische, aber auch jüdische Organisationen strengen Prozesse an.


Die politische Karikatur in Frankreich hat eine lange Tradition. Die ermordeten Zeichner gehörten zur Elite einer Zunft, die unter dem Niedergang der gedruckten Presse, aber auch unter den konformistischen Medien schlechthin leidet. Cabu, um nur einen zu nennen, zeichnete hauptsächlich für den Canard enchaîné, eine satirische Wochenzeitung, die auch ohne Werbung immer noch gute Gehälter zahlen kann und dieses Jahr ihren 100. Geburtstag feiert. Ohne seine regelmäßigen Zeichnungen und Rubriken wird hier eine halbe Seite weiß bleiben, doch man wird die Lücken füllen können.


Die toten Journalisten von Charlie Hebdo können sich gegen die fürsorgliche Umarmung ihrer neuen Freunde Juncker, Rajoy, Cameron, Merkel und Co. nicht mehr wehren. Es wäre eine Karikatur wert: Die marktkonformen europäischen Demokraten mit ihren Leibwächtern inmitten tausender trauernder Franzosen ...