Mehr als vier Jahrzehnte sind seit den Olympischen Spielen in München und dem Massaker auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck vergangen. Über meine damaligen Wahrnehmungen habe ich bis heute in der Öffentlichkeit geschwiegen. Warum? Anfangs hatte ich Sorge, meine Dienstpflichten als Polizeibeamter zu verletzen, und mir fehlte damals noch jede Erfahrung im Umgang mit Medien. Später habe ich das Thema verdrängt, zumal das öffentliche Interesse nachließ, wie Anfragen bei stern und Spiegel ergaben. Und dann schwieg ich, weil mir mein langes Schweigen peinlich und immer peinlicher wurde – denn inzwischen agierte ich längst als einer der Sprecher der »Kritischen Polizisten« und als Bundestags-abgeordneter in der Öffentlichkeit. Die naheliegende Frage »Warum kommt der jetzt damit?« hinderte mich bis heute, über eine Beobachtung zu berichten, die den Ossietzky-Lesern vielleicht auch aus heutiger Sicht nicht ganz unwichtig erscheinen mag.
1972 befand ich mich als Kriminalobermeister in der Kommissarsausbildung beim Polizeipräsidium Bochum. In der Zeit vom 18. August bis zum 11. September wurde ich als Sachbearbeiter für »Vermißte, unbekannte Tote« zum Polizeipräsidium München abgeordnet. Während der Olympischen Spiele ergaben sich aber für mich anfangs kaum dienstliche Aufgaben. Die Dienstzeit, die ich dort verbrachte, könnte man als »Anwesenheit« bezeichnen. Mein Interesse galt den Arbeitsabläufen in der Behörde während der großartigen Spiele und natürlich den Spielen selbst.
Die Meldung über das Attentat erreichte mich während meiner Freizeit. Sie packte mich besonders stark, weil meine damalige Freundin und heutige Frau als Mitarbeiterin des »Zivilen Ordnungsdienstes« im Olympiadorf der Frauen eingesetzt war – eine schick getarnte Beamtin. Nach dem Überfall auf die israelische Olympia-Mannschaft war sie eine der Ersten, die den Geiselnehmern direkt gegenüberstand. Sie ließ sich dann gegen vermeintlich für solche Situationen besser geeignete KollegInnen austauschen, und wir verbrachten den Tag damit, die Nachrichten über das Attentat zu verfolgen.
In der Nacht meldete der Rundfunk, die Geiseln seien lebend befreit worden. Mit dieser Nachricht im Kopf begann ich am Morgen meinen Dienst im Präsidium. Hier erfuhr ich von dem Massaker auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck: Alle Geiseln sowie die Terroristen seien getötet worden. Die Leichen, auch die eines im Olympiadorf getöteten israelischen Sportlers, befänden sich in der Gerichtsmedizin. Mir wurde befohlen, zwecks Spurensicherung an der Obduktion teilzunehmen.
Mit einem jungen Kollegen aus Dortmund, einem Hauptwachtmeister-Anwärter mit Fotografenausbildung, wenn ich mich recht erinnere, wurde ich hingebracht. In einem Flur sah ich die Leichen von Terroristen auf dem Boden liegen. In dem kleinen Obduktionsraum war die Leiche eines erschossenen Polizisten aufgebahrt. Anwesend waren der Obduzent, zwei Gehilfen und neben uns beiden aus Nordrhein-Westfalen ein oder zwei weitere Kriminalbeamte. Der Dortmunder machte Fotoaufnahmen. Die Obduktion begann an der Leiche des Polizeihauptmeisters Fliegerbauer (den Namen habe ich nie vergessen), der einen Einschuß über der Nasenwurzel hatte. Aus der Leiche wurde mir ein Projektil, Kaliber neun Millimeter, übergeben, das ich in einer kleinen Plastiktüte sicherstellte. Ebenso sicherte ich die Projektile aus weiteren, teilweise durch Verbrennungen entstellten Leichen. Die genaue Anzahl der Projektile weiß ich nicht mehr, und ich kann auch nicht mehr angeben, ob aus allen Leichen Projektile gesichert wurden. Ich erinnere mich aber genau, daß mir ausschließlich Neun-Millimeter-Projektile übergeben wurden und daß alle dasselbe Kaliber hatten: neun Millimeter. Unter den Beteiligten kam voller Entsetzen die Frage auf, die auch ausgesprochen wurde: Waren etwa sowohl Täter als auch Opfer des Attentats mit der gleichen Munition getötet worden? Aus gleichen Waffen? Von wem?
Die damals bei der Polizei üblichen Pistolen und Maschinenpistolen hatten das Kaliber 9 mm. Die Terroristen waren, soweit mir bekannt, mit Maschinenpistolen der Marke Kalaschnikow, Kaliber 7,62, bewaffnet. Projektile dieses Kalibers habe ich bei der Spurensicherung nicht erhalten.
Die Obduktion dauerte mindestens zwei Tage. Ich weiß nicht mehr, ob ich bis zum Schluß eingesetzt war. Ein Fazit wurde in meiner Anwesenheit nicht gezogen, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Aber so viel stand fest: Alle Schußverletzungen der Geiseln konnten nur durch Neun-Millimeter-Projektile verursacht worden sein. Andere habe ich nicht sichergestellt.
Von den acht Geiselnehmern überlebten drei, von den elf Geiseln niemand.