Wer Geld hat, hat auch Sorgen, heißt es. Schon von dieser Volksweisheit her ist es nachvollziehbar, daß angesichts der unentwegt wachsenden Geld-Vermögensmassen rund um den inzwischen fast vollständig kapitalistischen Erdball die Sorgen wachsen, diese Blase könnte platzen. Allein die Ausmaße machen Angst: Gab es 1980 noch ein weltweites Geldvermögen von zehn Billionen Dollar, waren es nach Angaben der Credit Suisse 2013 rund 250 Billionen Dollar. Gegen das drohende Platzen der Blase gibt es verschiedene, zum Teil recht schillernde Therapievorschläge – mit am buntesten der jüngst aus Professorenmund verkündete, das Bargeld abzuschaffen. In eher linken Kreisen beliebt ist der Vorschlag des Schrumpfgeld-Theoretikers Silvio Gesell, Geld wie ein Lebensmittel mit einem Verfalldatum zu versehen, so daß es Jahr für Jahr weniger wert wird und so schneller in Waren umgesetzt werde. Mit diesem im Mittelalter durchaus üblichen Verfahren werde die Schatzbildung verhindert, die Waffe des Zinses und Zinseszinses neutralisiert, und werden die Menschen zu ihrem Glück gezwungen, indem sie ihr Geld – statt es zu horten – ausgeben und die Wirtschaft in Schwung halten.
Nun sollte es den Gesellen wie überhaupt Geldtheoretikern aller Art zu denken geben, was in den letzten zwei Jahrzehnten in der kapitalistischen Weltwirtschaft passiert ist. Der in Geldform angehäufte Reichtum ist unentwegt gewachsen. Übrigens müßte das nach der Theorie von Milton Friedman und seiner Monetaristen schon längst zu einer parallel anwachsenden Inflation geführt haben. Von ihr ist weit und breit (noch) nichts zu sehen. Vor allem aber: Das Anwachsen dieses Geldberges geschieht, obwohl, wie jeder Sparer weiß, auf die üblichen Geldeinlagen kaum noch Zinsen gezahlt werden. Wie kann das sein, wo doch der Zins und sein Kind, der Zinseszins, die Haupttreibkraft für die auf Dauer unmögliche Vermehrung des reinen Geldreichtums gegenüber dem Warenreichtum sind?
Die Antwort finden wir wie in vielen ökonomischen Fragen bei dem aus dem akademischen Bereich und dem herrschenden Medienbetrieb verdammten Karl Marx und seiner Schülerin Rosa Luxemburg. Der Zins, lesen wir im ersten Band von Marx‘ Hauptwerk, ist der Anteil vom Profit, den der Geldverleiher vom Kapitalisten dafür bekommt, daß er ihm Geld vorschießt, mit dem er die Produktionsmittel (Grundstücke, Maschinen, Gebäude, Rohstoffe und die allein wertbildende Ware Arbeitskraft) kauft, um daraus Waren zu erzeugen, die er mit Profit zu Markte tragen kann. Das so eingesetzte Kapital nennt er gelegentlich fungierendes oder auch »wirkliches« Kapital, allgemein aber im ersten Band schlicht »Kapital«. Im dritten Band, der zu seinen Lebzeiten nicht mehr erscheinen konnte, trennt er demgegenüber davon das »fiktive« Kapital. Tut er das, um uns zu quälen? Nein, er braucht diesen Begriff, um einen Vorgang zu beschreiben, der zu seinen Zeiten noch keine so zentrale Rolle spielte, aber schon als wesentliches Strukturelement des heranwachsenden Kapitalismus sichtbar wurde. Wenn ich mit meinem Geld eine Ware kaufe – ob nun ein Auto zum Freizeitvergnügen oder um es in einem Unternehmen einzusetzen – tausche ich Geld gegen Ware. Damit wird das Geldvermögen der Gesellschaft nicht vergrößert. Habe ich dieses Geld aber nun nicht und besorge es mir bei der Bank, geschieht etwas fundamental anderes. Die Bank leiht mir 40.000 Euro. Die schulde ich ihr. Mit meinem Geld gehe ich weg und kaufe das Auto. Die Bank aber hat nun einen Schuldtitel gegen mich, den sie notfalls per Gerichtsverfahren zwangsvollstrecken kann. Dieser Schuldtitel ist bares Geld wert – nicht wegen der Zinsen und Zinseszinsen, die ich darauf zu zahlen habe, sondern unabhängig von ihnen. Die Bank kann diesen Besitzanspruch handeln wie eine Ware. Das Geld ist selbst handelbare Ware geworden: ein Wertpapier. Es kommt also zu einem »doppelten Dasein derselben Geldsumme als Kapital für zwei Personen«, wie Marx schreibt (MEW 25, S. 366). Rosa Luxemburg, eine Generation später als ihr Meister, hat darauf hingewiesen, daß diese Verdopplung des Geldes durch den Kredit zum einen den Ausbruch der im Kapitalismus üblichen Krisen hinauszögere, zum anderen ihre Wucht vervielfältigen müsse. Mit dem »schwarzen Freitag« 1929 gab die Welt ihr posthum recht.
Zur Lösung dieser bisher schwersten Erschütterung der kapitalistischen Welt hat der bürgerliche Ökonom John Maynard Keynes – der übrigens in seinem Hauptwerk Gesell wohlwollend würdigt – vorgeschlagen, der Staat solle seine vorher abgesehen von Kriegszeiten vorhandene Zurückhaltung hinsichtlich der Vermehrung von Geld aufgeben, sich von der Bindung des Geldes an eine konkrete Ware – dem Gold – lösen und seinerseits Kreditgeld in die Wirtschaft pumpen. Fiktives Kapital gibt es in verschiedenen Formen. Neben dem Kredit waren die inzwischen fast ausgestorbenen Wechsel in Marx‘ Zeiten üblich, außerdem Unternehmensanleihen und auch Aktien, die nach der Gründerkrise 1873 ihren großen Aufschwung erlebten. Sie gehören alle in die Kategorie des »fiktiven Kapitals«, mit dem sich der nominelle Kapitalwert gegenüber dem realen Reichtum einer Gesellschaft auf dem Papier verdoppelt. Dadurch, daß sich seit dem Siegeszug des Keynesianismus auch die staatlichen Zentralbanken an der Schaffung fiktiven Kapitals beteiligten, ist aus diesem im Kapitalismus urwüchsig entstehenden Kapital-Vermehrungs-Glimmen ein weltweiter Flächenbrand geworden. Aus marxistischer Sicht ist die Produktion von Reichtum aber letztlich niemals fiktiv, sondern immer nur real: Einen Reichtum jenseits neuer Gebrauchswerte oder gewonnener Freizeit gibt es nicht. Aus kapitalistischer Sicht interessiert sich Kapital – egal ob fiktiv oder real – für Gebrauchswerte überhaupt nicht. Sie sind interessant nur dann, wenn ich in Zukunft mit ihrer Hilfe Profit erzielen kann.
Hier liegt der Schlüssel für das Verständnis unserer gegenwärtigen Kapitalismusetappe. Nicht durch den Zins, sondern durch die stete Vermehrung des fiktiven Kapitals wächst das Nominalkapital lawinenartig. Die Papiere, auf denen die Zahlen mit den vielen Nullen stehen, sind im Kern aber nichts anderes als ein Versprechen auf künftige Profite. Das hatte für die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts anfangs sogar etwas Positives und Rationales. Mit dem auf künftige Gewinnerwartung hin vorgeschossenen Kapital wurden die riesigen Investitionen des sogenannten fordistischen Zeitalters getätigt, die selbst reiche Unternehmen aus eigenen Mitteln nicht hätten finanzieren können: riesige Autofabriken, Flugzeugfabriken, Schienennetze und Kabel kreuz und quer durch die kapitalistischen Wohlstandsregionen. Einen rationalen Kern hatte dieser Vorschuß auf künftige Gewinne deshalb, weil mit der Entwicklung von Produktionsprozessen die Zeitdauer, bis eine Investition sich ins Verdienen bringt, immer länger wird. Die Investition in eine Textilfabrik zu Marx‘ Zeiten hat sich schneller gelohnt – oder eben nicht – als die in die Entwicklung eines neuen Großflugzeuges, bei der zwischen erster Skizze und Flugtauglichkeit gut ein bis drei Jahrzehnte ins Land gehen können. Deshalb ist die Verlängerung der Gewinnerwartung teilweise nachvollziehbar – aber eben nur teilweise. Überwiegend ist sie irrational. Und auch das hat einen Grund, von dem schon die beiden erwähnten Ahnen wußten: Kein Kapitalist hat je Profit nur aus Grund und Boden, Maschinen und Rohstoffen erzielt – egal wie wunderbar seine Maschinen waren und sind. Profit gibt es immer nur, indem dem Produktionsprozeß menschliche Arbeitskraft beigemengt wird. Sie ist die einzige wertbildende Ware im Kapitalismus. Getrieben durch die Konkurrenz muß der Kapitalist aber genau diese Ware ständig aus dem Produktionsprozeß herausrationalisieren, also vertreiben. Alle Schübe industrieller Entwicklung haben einen doppelten Effekt: Sie rationalisieren Arbeitsplätze weg und schaffen gleichzeitig neue Industrien mit neuen Massenabsatzmärkten. Das war so bei der Dampfmaschine, die das Ende der mit der Hand arbeitenden Weber war, aber gleichzeitig mit Eisenbahnen, Kohle und Stahl ganz neue Industrien schuf, und das war so mit der zweiten industriellen Revolution, die mit Elektro- und Ottomotor zwar die Heizer auf der Dampflok neben die Gleise warf, aber neue Industrien schuf, in denen zu Millionen vorher nicht kapitalistisch verwertete Arbeitskraft verwertet wurde. Mit der dritten, der mikroelektronischen Revolution hat sich das geändert: Zwar bauen jetzt Menschen, die das vorher nicht taten, Handys und Smartphones zusammen. Aber dafür braucht es keine Dutzenden von Millionen, sondern nur noch ein paar zehntausend Arbeitskräfte weltweit. Die Rationalisierungseffekte dieses Schubs übersteigen seine Gier nach neuen kapitalistisch verwertbaren Arbeitskräften deutlich. Abzulesen ist das am Pegel der Jahr für Jahr ansteigenden massenhaften Dauerarbeitslosigkeit vor allem junger Menschen.
Damit kommt die kapitalistische Art und Weise, Reichtum zu erzeugen, an eine innere Schranke, wie es Marx formulierte, oder seine äußere Grenze, wie es Luxemburg nannte – sie vor allem mit Blick darauf, daß die innere Schranke solange hinausgezögert werden könne, solange es noch Regionen in der Welt gebe, die nicht durchkapitalisiert seien, also noch der kapitalistischen Verwertung der dortigen Arbeitskräfte unterworfen werden könnten. Auch dieser Zeitpunkt ist in den Jahrzehnten nach dem großen kapitalistischen Triumph von 1989/90 inzwischen erreicht.
Das Schwungrad, das den kapitalistischen Verwertungsprozeß in Gang hält – die Erwartung von Profit – kann eine Weile durch die Schöpfung von immer mehr und immer neuem fiktiven Kapital aufrechterhalten werden. Aber es müssen dann immer größere Summen aufgewendet werden, um wenigstens ein bißchen reale Investition in die Produktion realer Güter und Dienstleistungen auszulösen. Deshalb werden die Ziffern der Konjunkturprogramme immer riesiger und ihre Effekte immer geringer. Das erinnert ein bißchen an die Weigerung einer rutschenden Kupplung, trotz vermehrten Gasgebens die Kraft des Motors noch auf die Straße zu bringen. Auf Dauer bringt das niemanden vom Fleck, ruiniert aber das Auto endgültig. Deshalb werden die linkskeynesianischen Versuche, mit noch mehr geliehenem Geld die 1970er Jahre zurückzukaufen, mißlingen. Aber auch mit Schwundgeld, Zinsverbot und ähnlichen Mittelchen ist das Erlahmen des inneren Motors der kapitalistischen Produktion – die Erwartung, aus der Verwertung der Ware Arbeitskraft Profit zu erzielen – nicht zu beheben. Was vor uns liegt, ist nicht weniger als das Ende der kapitalistischen Produktionsweise. Die Reichtumstitel, die sich angehäuft haben, werden nicht mehr zu realisieren sein. Wir werden noch zu den Lebzeiten der meisten von uns in eine Phase massenhafter Vernichtung von Geld-Ansprüchen hineinkommen, die ihren inneren Wert schon längst verloren haben.