Verschwörungen
Die Reihe blutiger Attentate mit politischer Bedeutung und Verwertung bricht nicht ab. Zumeist werden die Täter in den Medien schnell »profiliert«, der wirkliche Tathergang und dessen Hintergründe aber bleiben auffällig oft über lange Jahre justiziell ungeklärt. So beispielsweise im Fall des Anschlags auf das Münchner Oktoberfest 1980, wo jetzt das Verfahren wieder aufgenommen ist. Sehr unbeliebt machen sich die sogenannten Verschwörungstheoretiker, die Erklärungen anbieten, welche in die herrschende Lesart nicht passen. Es fehlt bei solchen Theorien nicht an Absurditäten. Aber das ändert nichts daran, daß es Verschwörungspraktiker gibt, im oft gar nicht durchschaubaren Dschungel von Geheimdiensten, Terrorprofis und politischen Interessenten jeder Sorte. Und selbstverständlich werden dabei Desinformationen in die Welt gesetzt, über Attentäter und ihre Motive. Da existiert eine Sphäre des Untergrundes – mit Verbindungen zur obergründigen Welt offizieller Politik. Mißtrauen gegenüber allzu schnell fertigen Erklärungen terroristischer Akte ist keine pathologische Neigung.
Marja Winken
Kollateralnutzen
Ein mörderischer Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo – die mutmaßlichen Täter leben nicht mehr. Der französische Innenminister hatte zuvor erklärt, die Polizeitruppe müsse sie »neutralisieren«. Ein Justizverfahren, das möglicherweise den Hintergrund der Attentäter aufgekärt hätte, entfällt also. In der einflußreichen Zeitung Le Figaro war zu lesen, der Anschlag auf Charlie bedeute »Krieg«. Die erste Pflicht in dieser dramatischen Lage sei »Einigkeit« der Nation, die zweite: »Wir müssen uns bewaffnen«. Ist Frankreich bisher waffenlos?
Eigentümer des Figaro und vieler anderer Medien ist der Rüstungsindustrielle Serge Dassault. Sein Konzern produziert und verkauft unter anderem Kampfjets. Gegen dschihadistische Einzeltäter wird man solche Hightechwaffen nicht einsetzen können, aber ansonsten sind sie sehr nützlich, unternehmerisch gesehen. Und sie regen zum Einsatz auch anderer Waffen an. Beispielsweise der Fall Libyen: Die französische Regierung trieb den »Militärschlag« gegen Gaddafi zwecks Regime Change an, seitdem herrscht dort Bürgerkrieg, der Bedarf an Rüstungs-»Gütern« hält allseitig an, das »Wir müssen uns bewaffnen« erweist sich als höchst erfolgreicher Werbespruch.
Peter Söhren
Versteckter Nutzen
Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf zur »Tarifeinheit« beschlossen, der bis Mai dieses Jahres vom Bundestag abgesegnet werden soll. Festgelegt würde damit, daß in einem Betrieb tarifvertraglich diejenige Gewerkschaft handlungsberechtigt ist, die dort die meisten Mitglieder hat. »Gewerkschaftsfreundlich« sei eine solche Regelung, beteuert die sozialdemokratische Bundesministerin für Arbeit und Soziales, und das Streikrecht werde nicht angetastet. Das stimmt nicht. Die »Friedenswirkung von Tarifverträgen« werde so gesichert, freut sich der Arbeitgeberpräsident, einen »versteckten Nutzen« sehen unternehmensorientierte Publizisten in dem vorbereiteten Gesetz. Gemeint ist: Praktisch würde das Streikrecht massiv eingeschränkt, denn nach der herrschenden Arbeitsrechtsprechung könnten es dann nur noch »Mehrheitsgewerkschaften« in Anspruch nehmen. Und die Aktions-fähigkeit kleinerer Arbeitnehmerorganisationen wäre stark reduziert.
Einige Gewerkschaften außerhalb des DGB wollen gegen das Gesetz beim Bundesverfassungsgericht klagen. Unter den DGB-Gewerkschaften herrscht Zwist in Sachen »Tarifeinheit«. IG Metall und IG BCE sind für das Gesetz, ver.di, NGG und GEW dagegen.
Sicher ist, daß die Annahme des Gesetzentwurfes die gewerkschaftliche Bereitschaft zum Konflikt mit den Unternehmensinteressen nachhaltig schwächen würde; »Sozialpartnerschaft« wäre noch mehr die Norm.
P. S.
Marktwertegemeinschaft
Neulich war in Sport Bild ein auf verletzte Fußballer gemünzter Artikel so überschrieben: »Spieler für 504 Mio kaputt«. Damit war der »Marktwert« der Spieler gemeint. Im gleichen Blatt wurde der Marktwert von Helene Fischer »verraten«. Tatsächlich gibt es den Marktwert nicht nur im Handel, sondern auch im Humanbereich. Hat doch auch Spiegel online unter der Überschrift: »Top 10 der neuen Marktwerte der DFB-Stars« die Werte für zehn Spieler mit Beträgen zwischen 50 und 23 Millionen angegeben. Einen solchen Spieler kann ich mir ebensowenig leisten wie ein Privatflugzeug. Beides brauche ich auch nicht. Aber ich benötige dringend einen Klempner für die kaputte Wasserspülung und einen Wahlkreisabgeordneten für eine Eingabe. Nun denke ich über deren Marktwerte nach.
Günter Krone
Wo bleibt Christel von der Post?
In meiner Kindheit war es gang und gäbe, zu Weihnachten dem Postboten ein kleines Trinkgeld zuzustecken oder wenigstens einen Schnaps zum Aufwärmen. Würde ich heute diese Tradition fortführen, wäre ich am Jahresende wahrlich ein armer Mann. Immerhin gibt es nach neuesten Schätzungen in Deutschland an die 5000 Kurier-, Expreß- und Post- beziehungsweise Paketdienste. Mit rund 50.000 Fahrzeugen sind sie unterwegs von der Nordseeküste bis zum Alpenrand, von der Oder bis zum Rhein.
An manchem Tag scheint es mir jedoch fast, als hätten sich alle diese Zusteller- und Lieferdienste in unserer Siedlung verabredet. Bereits vor dem Aufstehen bringt der Zeitungszusteller nicht nur die neuesten Nachrichten, sondern erledigt gleichzeitig den Briefdienst seiner Tageszeitung. Meist steckt er jedoch keine guten Mitteilungen in den Briefkasten, denn die örtlichen Behörden oder die Stadtwerke bedienen sich gern dieser Beförderungsart.
Nach dem Frühstück verteilt der City-Kurier seine Handvoll Sendungen in der Straße. Kaum hat er seinen Mini-Job erledigt, kommt die eigentliche »Christel von der Post« mit ihrem knallgelben Gefährt. Briefe und Karten hat sie schnell verteilt, doch seit der Internet-Handel boomt, hat die »Post-Christel« vor allem jede Menge Online-Päckchen auszutragen. Die größeren Pakete bringt ein paar Minuten später die Post-Tochter DHL oder das amerikanische Transportunternehmen UPS. Die beiden müssen jedoch aufpassen, daß sie nicht mit dem Hermes-Fahrzeug kollidieren, das inzwischen ebenfalls aufgetaucht ist. Aber Vorsicht, da kommt schon DPD (Dynamic Parcel Distribution) um die Ecke. Sie alle geben am Vormittag ihr Stelldichein in unserer Siedlung. Und alle versprechen sie, daß sie kostengünstig und selbstverständlich umweltschonend sind. Bei rund einem Dutzend Fahrzeugen und Kleinlastern jeden Tag allein für unsere Sackgasse habe ich da allerdings meine Zweifel.
Wenn ich dann glaube, am Nachmittag hat dieser Zustell-Wahnsinn ein Ende, werde ich durch die Hausklingel eines Besseren belehrt. Vor der Tür steht der Bofrost-Mann und bittet mich, die gefrorenen Rindsrouladen für die Nachbarin anzunehmen. Kaum habe ich die Annahme quittiert, hält schon der nächste Lieferservice vor der Tür: Fressnapf bringt zwanzig Kilo Trockenfutter für den Bello von nebenan. Jetzt brauche ich einen Schnaps – vor allem, wenn ich daran denke, daß demnächst auch noch zig Drohnen über unserer Siedlung kreisen werden.
Manfred Orlick
Politgeographie
Ein Nachtrag zum Ossietzky-Themenheft 1/2015: »Amerika und Brasilien wollen Beziehungen verbessern« – so der Titel eines Berichtes in der Frankfurter Allgemeinen. Das läßt verschiedene Deutungen zu:
Brasilien liegt gar nicht auf dem amerikanischen Kontinent. Aber das hielte PISA nicht stand. Oder, etwas komplizierter: Geographisch gehört Brasilien zu Amerika, ist aber nur ein Protektorat, Teilgebiet eines Imperiums, und das heißt United States of America. Der F.A.Z.-Redakteur, erdkundlich gewiß gebildet, wird die zweite Version gemeint haben und ganz okay finden. Das »of« kann ja sagen wollen, die Vereinigten Staaten seien in Amerika gelegen, aber auch: Sie hätten einen Anspruch darauf, diesen Kontinent zu beherrschen.
M. W.
Bald keine Hoffnung mehr
Seit Monaten versuchen immer wieder Afrikaner, den sechs Meter hohen, mit NATO-Stacheldraht versehenen Zaun der spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Nordafrika zu überwinden. Mal sind es 50, dann wieder 60 junge Menschen, denen es gelingt, über die Bollwerke nach Europa zu klettern (vgl. Ossietzky 7/14).
Die spanischen Behörden gehen an den Grenzzäunen mit brutaler Härte gegen die Afrikaner vor und stehen daher in der Kritik von Menschenrechtsaktivisten, die immer wieder auf Video festhalten, wie die Guardia Civil die Afrikaner vom Grenzzaun zerrt, häufig dabei auch verprügelt. Auch wenn sie bereits spanischen Boden betreten haben, werden die Asylsuchenden umgehend nach Marokko zurückgebracht.
Seit langer Zeit kritisieren die EU-Kommission und der Europarat dieses Tun der Spanier. Für die Kritik aus Brüssel hat der spanische Innenminister Jorge Fernández Díaz (Partido Popular) nur Sarkasmus übrig. Gegenüber Journalisten sagte er: »Mit großer Freude werden wir den Bitten Europas nachkommen. Wenn uns jemand verspricht, diese Leute würdig zu behandeln, sie versorgt, ihnen Arbeit gibt, soll er uns seine Adresse geben. Wir werden ihm diese Menschen so schnell wie möglich schicken.« (Deutschlandfunk)
Auf Druck des spanischen Innenministers Fernández Díaz hat das spanische Parlament inzwischen über ein Gesetz abgestimmt, das die derzeitige Praxis am »blutigen Grenzzaun« legalisiert. Noch steht das Votum der zweiten Kammer, des Senats, aus. Doch die Zustimmung gilt als sicher. Allerdings regt sich Widerstand gegen das Gesetz. Gekippt werden kann es vom spanischen Verfassungsgericht, auch von der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Übrigens: Direkt hinter dem Zaun liegt der »Club Campo de Golf de Melilla« der Exklave. Der 9-Löcher-Platz hat, so die spanische Tageszeitung El País, zwei Millionen Euro gekostet. Ein Großteil der Summe für den Golfplatz stammt aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) der »Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen« beseitigen soll.
Karl-H. Walloch
Lebensläufe im Krieg
Die sogenannte Bewältigung der deutschen Geschichte im Zweiten Weltkrieg, sie hat Fortschritte gemacht, zu einem Abschluß ist sie keineswegs gelangt. Deutlich wird das am Umgang mit Biographien derjenigen, die damals dem staatsverbrecherischen System dienten – oder ihm widerstanden, der mörderischen Politik Sand ins Getriebe streuten.
Der Historiker Wolfram Wette, seit Jahren engagiert in Nachforschungen zum Militarismus und zum Antimilitarismus in der deutschen Vergangenheit, hat »Täter« auf beiden Seiten in Erinnerung gebracht: Generäle und Richter der Wehrmacht, Exekutoren des SS-Systems – und »Hochverräter«, »Wehrkraftzersetzer«, Deserteure, Retter von Menschen, die der NS-Staat verfolgte. Im Blick sind dabei deren Handlungen, zugleich aber die »Würdigungen«, die den einen und den anderen Akteuren nach dem Untergang des Dritten Reiches zuteil oder nicht zuteil wurden; auf der einen Seite verdeckend, verdrängend, rechtfertigend, auf der anderen über Jahre hin diffamierend, ausgrenzend. Diese Einzelbeiträge von Wette liegen nun in einem Sammelband vor, sorgfältig ediert und mit Bilddokumenten ergänzt, herausgebracht von dem engagierten Bremer Verleger Helmut Donat. Zeitgeschichtlich-politische Aufklärung hat damit ungewöhnlich eindrucksvolles, kritisches Material.
Arno Klönne
Wolfram Wette: »Ehre wem Ehre gebührt! Täter, Widerständler und Retter. 1939–1945«, Donat Verlag, 334 Seiten, 16,80 €
FDP in Fuchsin
Den Freien Demokraten, die ganz zerrupft dastehen, haben Werbeleute eine weitere Parteifarbe verpaßt: Zu Blau und Gelb ist nun das (Telekom-) Magenta hinzugekommen, eine Purpurvariante, eher als Fuchsin bekannt. Sie soll anziehungsfähig sein, die FDP will ja aus dem demoskopischen Tief wieder emporsteigen, mitregieren, Ministerposten zurückgewinnen und auch mehr Wahlgeld in ihre Kasse einbringen. Wer weiß, wie lange Spenden aus der Wirtschaft noch fließen, die Sponsoren wollen schließlich politisch belohnt werden.
Auf die neue Farbkomposition im Parteilogo allein möchte sich der oberste Freidemokrat aber nicht verlassen. In seiner Dreikönigsrede hat er angekündigt, in Zukunft sei mit »FDP pur« zu rechnen.
Konkret: Um Steuersenkungen für unternehmerischen Gewinn werde die Partei sich kümmern, um noch mehr Deregulierung gewerblicher Tätigkeiten, um Durchsetzung der Freihandelspläne. Die Unionsparteien seien zu sehr »sozialdemokratisiert«. Ein Wink mit dem Zaunpfahl: Die Kanzlerin brauche Lindners Partei zum Mitregieren. Aber da ist das Wählerpotential für die pure FDP überschätzt, und die Koalitionsmöglichkeiten der CDU/CSU sind unterschätzt. Angela Merkel ist nicht auf Christian Lindner als Vizekanzler angewiesen. Und die großen Unternehmen sowie Finanzfonds sind so frei, ihre Interessen auch ohne Freidemokraten durchzusetzen, auch wenn sie sich gelegentlich über Mindestlöhne et cetera beklagen. Es fehlt ihnen gar nicht am Zugriff auf die regierende Politik. Eine aufwendige Reha-Maßnahme für die FDP können sie sich sparen, zumal inzwischen ja auch die Grünen zu alimentieren sind.
M. W.
»Nerwöhs is der Mann!«
und »eine reizende Person!« Kurt Tucholsky wollte Herrn Wendriner als »große böse Puppe« in einem Buch, dessen Herausgabe Edith Jacobsohn Mitte der 1920er Jahre plante, unter anderem gern von George Grosz gezeichnet haben. Doch leider ist es dazu nicht gekommen. Die Texte waren zu »scharf«. So erschienen Beiträge über den immer ans Geschäft denkenden Herrn Wendriner und das plappernde und beichtende Lottchen einzeln in der Weltbühne oder in der Vossischen Zeitung und später selbstverständlich in Sammelbänden und Tucholskys Gesammelten Werken. Einzelne Sätze und ganze Passagen gehören zu den Lieblingssentenzen jedes Tucho-Freundes: »Es ist ein fremder Hauch auf mir?« – »Glaubst du vielleicht von mir, was ich von dir glaube?« – »Wenn mans im Leben zu etwas bringen will, muß mans zu was gebracht haben.« – »Würden Sie sich mit der Politik das Geschäft verderben lassen? Na also. Politik gehört nicht ins Geschäft. Nein, auf‘n Rennplatz auch nicht. Ich wer Ihnen sagen, wo sie hingehört: Da wo sie hingehört, gehört sie hin.« und viele, viele mehr!
Der kleine geschäftstüchtige Spießer und die alleinerziehende Geliebte mit dem zu großen Herzen und zu wenig Geld sind Klassiker. Und doch sind sie auch Repräsentanten ihrer Zeit. Dem Verlag für Berlin-Brandenburg gebührt Dank für das Verdienst, endlich den Plan von Edith Jacobsohn und Kurt Tucholsky verwirklicht zu haben. Leider ohne Illustrationen.
Christel Berger
Kurt Tucholsky: »Herr Wendriner und das Lottchen«, herausgegeben von Peter Böthig und Carina Stewen, Verlag für Berlin-Brandenburg, 94 Seiten, 14,99 €
Zuschrift an die Lokalpresse
»Jauchzet, frohlocket!« skandierte die bundeshauptstädtische Christenheit zum Jahresausklang. Angehörige anderer Religionsgemeinschaften und selbst Ungläubige konnten sich dem Jubel nicht verweigern.
»Endlich!« triumphierten die Berliner Bürgerämter und Steuerbehörden.
Der Grund für die Euphorie: Die Bevölkerung der Hauptstadt wächst schneller als gehofft, geahnt und gefühlt. Bereits für 2013 wurde ein Wachstum von fast 47.000 Bürgern ermittelt, resultierend aus Zuzügen und Neubackenem aus der Altsubstanz. Und das Tollste: Die statistischen Fachämter haben in jahrelanger Forschungsarbeit den Berliner Durchschnittsbürger ermittelt. Er ist laut taz vom 19. Dezember 2014 ranke 172 Zentimeter hoch und satte 74,8 Kilogramm schwer. Wer hätte das gedacht. Und das Allerbeste: Die Statistiker haben den Mut, Disproportionen aufzudecken und zu benennen. So bringt fast die Hälfte der Berliner mehr Bauchspeck auf die Waage als laut Body-Mass-Index (BMI) zulässig, in Marzahn leben die Dicksten und in Steglitz/Zehlendorf »lauter Alte«. Die wenigsten Pfunde schleppen die Friedrichshain/Kreuzberger mit sich herum, und am Kotti, an der Oberbaumbrücke und am Boxhagener Platz lebt die Kategorie, die »gelegentlich oder regelmäßig zu Kippen greift«.
Daß der eine oder andere der Probanden ein wenig aus dem Schema fällt, haben Statistiken nun mal so an sich. Wer kennt nicht das Sprüchlein »Im Durchschnitt war der Dorfteich 80 Zentimeter tief, und trotzdem ist die Kuh ersoffen« oder die Insider-Mahnung »Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!«
Zum Beispiel, wenn ich den Maßstab an mich selber anlege: Mit 164 Zentimetern lichter Höhe und 61 kg Lebendgewicht bin ich in Lichtenberg glatt fehlbesetzt.
Kilomäßig wäre ich in Kreuzberg besser plaziert, und altersmäßig müßte ich mir südwestlich von Zehlendorf eine bescheidene Bleibe suchen, das würde aber meine Ostrente schwer verkraften. Meine Frau wäre in Friedrichshain gewichtskonform, am besten in Boxi-Nähe, da sie sich ab und zu mit Qualm umgibt.
Da die von der Statistik noch nicht ermittelten Ehestandskriterien nach unserer Auffassung überwiegend stimmig sind, haben wir uns dafür entschieden, den Kiez Frankfurter Allee Süd weiterhin mit unserem Verbleib und unseren Unkostenbeiträgen zu ehren.
Was, liebe Datenfreunde, lehrt uns das? Die Forschungsarbeit über den durchschnittlichen gemeinen Berliner steht noch am Anfang! Es sind noch erhebliche Mittel zu investieren und Fragebogen zu füllen, um nicht vertretbare statistische Lücken zu schließen und den Hauptstädter noch durchschnittlicher und noch durchsichtiger zu machen.
Ich möchte dazu einige Anregungen vermitteln: Wo wird der durchschnittliche Hauptstädter geboren? Etwa wie Pinselheinrich Zille im sächsischen Radeburg, wie die Urberliner Soubrette Claire Waldoff in Gelsenkirchen, wie das Multitalent Otto Reutter in Gardelegen, wie die Berliner Schnauze Grethe Weiser in Hannover, wie der Sprachverdreher Hansgeorg Stengel im reußischen Greiz? Über welche Qualitäten sollte der durchschnittliche Berliner neben seine Pfunden und Höhenunterschieden zum Meeresspiegel verfügen? Was hat er zum Nutzen der Menschheit schon erfunden, welche Ehrenämter übt er aus? Und – falls noch etwas finanzieller Rückstau flüssig gemacht werden könnte – für welche politischen und kulturellen Themen interessiert er sich?
Weitere Vorschläge behält sich vor Ihr Leser Wolfgang Helfritsch, statistisch überaltert, 10365 Berlin-Lichtenberg
W. H.