Kundgebungen sind im Allgemeinen staatsnah. Das Volk selbst bevorzugt Demonstrationen. Von da ist es nicht weit zu zielgerichteten Protestmärschen. Straßen werden zum Terrain der Demokratie, wenn die Häuser der Parlamente nicht mehr transparent sind. Doch diverse Zusammenrottungen und Menschenansammlungen sind neuerdings nicht mehr so leicht in Schubladen vorgefertigter Deutungen abzulegen. Was geht da eigentlich vor sich?
Zunächst nötigt der Mut der beteiligten Menschenmassen Respekt ab. Der lobende Begriff des Mutbürgers löste den abwertenden Terminus Wutbürger ab. Menschen lehnen sich auf. Sie rufen in Sprechchören umstürzlerische Losungen. Da dies in der Regel wenig bewirkt, werden sie radikal. Sie steigern die Intensität. Der Konflikt spitzt sich zu. Wenn der Mut doch in Wut umschlägt und Verzweiflung um sich greift, kommt die Stunde der Gewalt. Immer wieder dasselbe: Chaoten, Extremisten, Randale und Krawall beherrschen die Szene. Der Vorwand ist da, mit der Staatsgewalt einzuschreiten. Der Platz des Geschehens ist dann unverzüglich zu räumen. Spätestens in diesem Moment fragst du: Worum ging es eigentlich? Was sind denn überhaupt die Punkte, gegen die sich die Empörung wandte?
Die so voller Edelmut und Übermut Angetretenen gucken dich dann ganz verständnislos an: Na, gegen die Gewalt, gegen die Unterdrückung, gegen diesen und jenen Zwang, gegen dieses brutale Vorgehen selbstverständlich. Wie können Sie so dumm fragen? Wir alle sind Kinder des Tahrir in Kairo und des Maidan in Kiew! Freiheit, her damit! Demokratie, dalli, dalli! Alles klar? Du fragst: Was wurde denn dort eigentlich bewirkt? Das Unterste wurde zuoberst gekehrt. Und das neue Oben ist schlimmer als das alte. Hier Militärs gegen die richtigen Moslembrüder und gegen die falschen Demokraten. Dort Ukrainer gegen Russen, gegen das Gespenst Putin. Abrupt gegen Korrupt? Das klappt nicht – Korrupt sitzt fest im Sattel und reitet die Attacke retour.
Bei uns in Deutschland ist alles ganz anders. Viel schöner. Wir sind so mutig, Kampfziele so moderat zu formulieren, wie die Polizei erlaubt. Stuttgart 21. Fluglärm. Und jetzt »Abendland vor Überfremdung retten«. Die weiße Fahne des Bestsellerautors Thilo Sarrazin, eingefärbt in schwarzrotgold, weht voran. Die Pflichtlektüre aller Stammtische hat ihre Langzeitwirkung getan. Der Groll der vom Establishment angeschmierten Massen wird in die »richtige« Richtung gelenkt. Was bereits an Kultur und Bildung gespart wurde, tut Wirkung. Unkultiviert und bildungsfern schreien blöde gereckte Hälse: Protest!
Was da mit dem Zeigen von Unmut im Wählen einer auf Antihaltungen abonnierten neuen Parteiformation begann, geht nun auf die Straße. Und auf den Platz. Der kleine Mann und seine Familie, sie sind dort immerhin zuhause. Die sonst immer Motorisierten sind hier zu Fuß. Wenn die satt und zufrieden etablierte Hautevolee von Dresden geruht, den Sektrausch des Festballes in der Semperoper zu genießen, singen sie in klirrender Kälte draußen auf dem Vorplatz die süßen Walzermelodien mit. Da sollen keine welschen Eindringlinge aus den Drittländern der elenderen Welt dabei stören.
Wie Publikumsmassen willig zu Bravorufen animiert werden, das erleben der kleine Mann und seine Familie schon, wenn sie im Fernsehen als Claqueure gebraucht werden. Die Regie hier programmiert dagegen Buhrufe – aber kein Wort der Kritik am einheimischen Management. Wenn es zehnmal ihn und seine Familie Tagereisen weit westwärts zum Broterwerb jagt – es hegt ja keinen Arg gegen ihn. Nein. Der Schauwert der köstlichsten Architekturkulisse des Ostens vor der Semperoper allein flankiert nun den Schauplatz seines Protestganges fürs Abendland. Der einst publikumswirksamste Vorgänger Sarrazins hieß Oswald Spengler. Im Morgenrot des aufgehenden Nazireiches beschwor er den »Untergang des Abendlandes«. Und heute?
Da werden im von Abendländern aufgeputschten Morgenland unschuldige Menschen in die Flucht gejagt, die nun hier vor der Tür des kleinen Mannes und seiner Familie stehen. Was soll er hier mit ihnen? Genügt es nicht, dass der Sohn des kleinen Mannes Dienst an der Waffe im Auslandseinsatz tut?
Wir sind das Volk, rufen er und seine Familie. Warum sollen sie das nun auf einmal nicht mehr rufen dürfen? Zur Jubelfeier des Mauerfalls durften sie, die mutig der Diktatur die Stirn geboten und den Rücken gekehrt hatten, die Tränen der Freude wieder sprudeln lassen. Diese übermächtige Wiedersehensfreude mit den Brüdern und Schwestern! Alles noch einmal live zu erleben beim großen Jubiläums-Spektakel! Gar nicht so unzutreffend hieß es seinerzeit immer »Wahnsinn«. War es auch Wahnsinn, hatte es doch (frei nach Shakespeares »Hamlet«) Methode, wie dann der Staat abgewickelt und das Land verscherbelt wurde. Und der kleine Mann und seine Familie schauten zu. Arbeitslos.
Das wäre doch ein Grund gewesen, seine eigene Meinung zu demonstrieren. Kritische Wertung anzumahnen, Konsequenzen einzufordern. Aber nein. Keine Zeit. Der kleine Mann und seine Familie, sie mussten ja noch einmal bei der hohen Behörde vorstellig werden, welche die Stasi-Akten kostenaufwendig und getreu ihrer Tradition pflegt und bewahrt. Und nun offen zugänglich macht. Da gab es doch ein paar Bekannte, die sollen gespitzelt haben. Der private Krimi ist spannend: Wer war es? Aufklärung ist die Devise. Wir wollen es wissen! Viertausend Leute beantragen pro Monat dort Einsicht auf Durchsicht. Da kann man sich nicht ausschließen.
Nun demonstrieren sie also. Ihr Selbstbewusstsein wehrt sich nicht dagegen, als verzwergte Exbürger eines Unrechtsstaates etikettiert zu werden. Verdrießt sie nicht eigentlich die Deindustrialisierung einst Gewinn bringender Landstriche? Stört sie nicht in Wahrheit die Fremdbestimmung über weite Lebensbereiche? »Die da oben« – wissen Sie nicht, dass sie die selbst mit ihrer Stimme gewählt haben? Doch. Sie sagen es nur nicht laut und vernehmlich. Inzwischen sind sie geübt darin, abfällige Urteile über sich zu provozieren. Rechtsextreme! Neonazis! Das ist nun das Echo aus Rest-und-Westdeutschland. Dresdens wunderschöne Theaterkulisse einer heilen barocken Welt geht kaputt.
Dabei brauchten sie nur den Mut zu finden, die echten Wahrheiten auszusprechen.