Gerade rechtzeitig ist ein gut 300 Seiten starker Sammelband erschienen, dessen 25 sachkundige Autor/inn/en aus unterschiedlichen Blickwinkeln das komplexe Thema behandeln, das seit dem Sommer 2015 die deutsche Öffentlichkeit beherrscht wie kein anderes: Flüchtlinge, Migranten, Zuwanderer aus dem Nahen Osten und dem ferneren Afrika, die nun auch deutsche Grenzen überschreiten. Nicht die weltweite Fluchtbewegung ist neu, sondern dass »sie in Deutschland angekommen« ist, wie Anja Reschke einleitend feststellt, und das Land »aus seiner Lähmung gerissen hat«. Sie zitiert die Shell-Jugendstudie 2015, nach der sich Jugendliche wieder stärker als zuvor für Politik interessieren und ihre Zukunft aktiv mitgestalten wollen, auch mit den neuen Flüchtlingen. Doch auf welcher Grundlage, welchen »Werten« soll die Gesellschaft in Europa zukünftig fußen? Angesichts der vielfach ausgemachten »mangelnden Kenntnis von Ursachen und Wirkungen von Flucht«, will dieses Buch aufklären und vermittelt eine Fülle notwendiger Sachkenntnisse.
Bahman Nirumand erinnert zunächst an den Schmerz, die eigene Heimat verlassen zu müssen, bei Beginn seines politischen Exils vor fast 50 Jahren. Doch heute geht es um weit mehr »Fluchtursachen«. Gabriele Gillens faktenreicher Überblick rückt die Tatsachen ins Licht, die von deutschen Propagandasätzen wie »Wir können nicht die ganze Welt retten« (zum Beispiel Markus Söder, CSU) vertuscht werden: Die Hauptlast der kriegsbedingten Massenflucht im Nahen und Mittleren Osten tragen die Nachbarstaaten von der Türkei bis Pakistan! Kein europäischer Staat ist unter den zehn Hauptaufnahmeländern, prozentual zur eigenen Bevölkerung steht der kleine Libanon an erster Stelle mit fast 25 Prozent Flüchtlingen. Das entspräche in Deutschland, das in dieser Statistik auf Platz 50 steht, der Aufnahme von 18,5 Millionen Flüchtlingen in den letzten vier Jahren. Dieses Ungleichgewicht wird von UN-Flüchtlingskommissar António Guterres als Beleg für »Fremdenfeindlichkeit der Industriestaaten« gewertet. Doch Gillen weist auf »unsere Verantwortung für das zerstörerische Erbe von Kolonialismus und Imperialismus« hin, auf die »aus diesem Erbe entstandenen Kriege, die nationalen, die europäischen und die weltweiten Ungleichheiten«. Es sind gerade »die im Namen von Demokratie und Menschenrechten verabredeten militärischen Interventionen des Westens«, die »die Zerfallsprozesse und die Ausweitung der rechtsfreien Räume« nicht nur im Nahen Osten befördern. Mindestens 60 Millionen Menschen irren inzwischen auf der Welt umher auf der Suche nach einem heilen Dach und Arbeitsmöglichkeiten. Die meisten blieben gern in ihrem Kulturraum oder kehrten so bald wie möglich in ihre Heimat zurück: 86 Prozent vegetieren nahe der Kriegsgrenzen, nur 14 Prozent versuchen, gen Norden zu ziehen, unter meist unmenschlichen Bedingungen. Und weit mehr fliehen vor Armut, Hunger und Klimakatastrophen und unterstehen nicht dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention, sie werden von ihr auch nicht erfasst. Doch »Ressentiments gegen die sogenannten Armuts- oder Wirtschaftsflüchtlinge werden geradezu geschürt« – von der Bild-Zeitung über CDU/CSU bis hin zur Kanzlerin, die zwischen »schutzwürdigen« und »nicht schutzwürdigen« Flüchtlingen unterscheidet. Und schließlich benennt Gillen die Grundproblematik der Tragödie: »Gigantische Massen von überflüssigen Arbeitskräften«, inzwischen deutlich mehr als eine Milliarde, die weltweit »im Verwertungskreislauf des Kapitals nicht gebraucht« werden. Tendenz steigend.
Von diesem Grundproblem gehen auch die Überlegungen Daniela Dahns aus. Sie benennt mit anschaulichen Beispielen die Lebenslügen über die aktuellen Folgen von Turbokapitalismus und Neokolonialismus, mit denen die großen Medien die Mehrheit der Bürger benebeln. Ausgehend von den gefälschten Rechtfertigungen für die US-Aggressionskriege nach dem Untergang der Sowjetunion vor 25 Jahren macht sie deutlich, wie wenig heute die militärische Allianz mit den USA im eigentlichen Interesse der Völker Europas liegt. Und anhand der katastrophalen Situation Afrikas, wo trotz des Reichtums an Bodenschätzen drei Viertel der Bevölkerung auch weiterhin in Armut leben und zukünftig vermehrt auswandern werden, stellt sie fest: »Es gibt Fluchtursachen, die so gravierend sind, dass sie für Generationen irreparabel sein werden«, und der Westen müsse entscheiden, »wie er mit den weitgehend von ihm auf den Weg gebrachten Flüchtlingen umgeht«. Sollte sich nämlich die westliche Ordnung zukünftig nicht als lernfähig erweisen, »dann könnte sie implodieren. Welche Kräfte werden das Vakuum füllen?« Dahns Schlussfolgerung ist, dass »die, die es sich leisten können, eines lernen müssen: teilen wollen«. Damit meint sie vor allem die Superreichen, die weltweit über mindestens 100 Billionen verfügen, von denen sie »zehn Prozent für die Stabilität des Weltgefüges abgeben« könnten, eine Summe, die der jährlichen Wirtschaftsleistung der EU entspräche: »Solidarisches Gemeinwesen oder Barbarei« – eine dem heutigen Sprachgebrauch angepasste Variante von »Sozialismus oder Barbarei« (Marx).
Den gefährlichen »Fluchtwegen« gehen acht detaillierte Beiträge nach und zeigen unter anderem, dass die bisherigen Maßnahmen zur »Begrenzung der Migration«, die im Zuwanderungsgesetz von 2004 als Ziel definiert ist, vor allem sicherheitspolitischen Überlegungen folgen. Doch sie verfehlen das Ziel. Einrichtungen wie Frontex sind menschenverachtend und provozieren die Frage: »Wo beginnt die Festung Europa?« (Gillen) Ihre Antwort: »Mitten unter uns. In unseren Köpfen« führt, in sieben weiteren Beiträgen, zu einer Erörterung über die Spannung bis hin zur Spaltung zwischen »Deutschland und Europa«, zwischen den »Satten und den Hungrigen« (Herfried Münkler) bis zur »Volksfront von rechts« (Patrick Gensing). Thomas Straubhaar stellt die überwiegend positiven ökonomischen Aspekte von Migrationen fest, von denen gerade Deutschland (beziehungsweise seine Wirtschaft) in der Vergangenheit profitiert habe: »Aus wirtschaftlicher Perspektive sollte es insofern keine künstlichen Zuwanderungshemmnisse geben«, doch die Praxis sieht anders aus als die Theorie. Hier erscheinen die Neuankömmlinge als Konkurrenten nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch bei den Sozialleistungen. Notwendig dagegen wären extreme Lösungen, die allerdings die heutigen »rechtlichen wie ökonomischen Rahmenbedingungen« sprengen würden. Zudem sei »nationale Asylpolitik zum Scheitern verurteilt« und eine »Vergemeinschaftung der Migrationspolitik« in Europa notwendig!
Heribert Prantl nennt denn auch das seit 1990 die Flüchtlinge von Deutschland fernhaltende Dublin-Regime, das vor allem Südeuropa belastete, »unsolidarisch und teuflisch«, es sei de facto zusammengebrochen. Die auch von ihm erhobene Forderung nach einer solidarischen europäischen (Migrations-)Politik – ohne die Europa nicht als Union überleben wird – erscheint angesichts heutiger Zustände so notwendig wie utopisch.
Wenn man das Buch aus der Hand legt, ist einem noch klarer geworden, wie stark die Zeichen auf Sturm stehen.
Anja Reschke (Hg.): »Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge«, Rowohlt Polaris, 333 Seiten, 12,99 €