Albatrosse sind laut Band I des »Universal-Lexikons« eines nicht ganz unbekannten Herrn Meyer vom Bibliographischen Institut Leipzig Sturmvögel, die mit einer respektablen Flügelspannweite von bis zu 3,5 Metern Hochseeschiffe begleiten. Dieser Sachverhalt ist zwar in einem während der DDR-Epoche erschienenen Handbuch nachzulesen; wir gehen aber mal davon aus, dass selbst in Diktaturzeiten nicht alle Fakten parteidiktiert oder stasigefälscht waren und nehmen das deshalb einfach so hin.
Das unter der Flagge von Phoenix Reisen GmbH Bonn laufende Motorschiff »Albatros« bewältigte während unserer Reisezeit vom 17. November bis 4. Dezember 2015 mit 8744 Kilometern oder, seemännisch interpretiert, mit 4721 Seemeilen eine weitaus höhere Spannweite als seine gefiederten Namensgeber.
Unsere »Albatros« ging 1973 in Finnland als klassischer Kreuzfahrer von der Werft und wechselte seitdem mehrmals den Namen und den Betreiber. Sie ist dazu in der Lage, rund 830 Passagiere sicher und komfortabel zu befördern und zwischenzulagern. Selbige werden von exakt 340 Besatzungsmitgliedern unterschiedlichster Nationalitäten und Religionen technisch und gastronomisch hervorragend betreut. Die Crew kommt aus 23 Ländern und bestand zu unserer Reisezeit zur Hälfte aus Philippinern. Der Rest verteilte sich auf Indonesier, Russen, Ukrainer, Bulgaren, Türken, Ägypter, Holländer, Puertoricaner, Esten, Israelis, Schweizer und Deutsche und ähnelte vom Gemisch der Lebewesen her eher der Überlebens-Arche des alten Noah als einem modernen Hochseekreuzer. Und was das Erstaunlichste war: Dieses Sammelsurium von Personal schoss nicht aufeinander und sprengte sich weder gegenseitig noch die Passagiere in die Luft.
Bei einer derartigen Konstellation von Christen, Muslimen, Juden, Buddhisten, Kopten, Atheisten und weiteren Glaubensträgern auf einem schwimmenden Eiland ist das in der heutigen Welt ungewöhnlich. Es steht auch in Widerspruch zur Gegenwartsnormalität, dass die »White Lady« als renommiertes Mehrsterne-Hotel bisher ungekapert die Weltmeere durchkreuzte. Mehr noch: Die Crewmitglieder, die als freundliche und zugleich kaum wahrnehmbare Huschmädchen und Huschmännchen schier unermüdlich für das Wohl der Reisenden im Gange waren, vereinten sich bei aller Unterschiedlichkeit der vertraglichen Dienstleistungen, der Herkunftsländer und der Weltanschauungen zusätzlich auf der Bordbühne zu einem attraktiven internationalen Unterhaltungsensemble.
Bekannt wurde der Steamer übrigens durch die Fernsehserie »Verrückt nach Meer« und die amourösen Geschichten, die sich während der Kreuzungen laut Spielbuch an Bord zugetragen haben sollen. Derartige Episoden kamen uns während unseres Ausfluges weder zu Gesicht noch zu Gehör. Das mag jedoch auch mit der großen Lebenserfahrung und dem beachtlichen Durchschnittsalter der Reiseteilnehmer zu tun haben, deren Verhütungswerkzeuge sich eher auf Krücken, Rollatoren und Stützstrümpfe orientierten als auf Lustschnäppchen aus dem Beate-Uhse-Katalog. Außerdem hatten die greisen Weltenbummler genügend damit zu tun, ihre Ersatzteile bei Windstärke 7 und 8 in der Balance zu halten, was ihnen allerdings erstaunlich gut gelang.
Wir hatten das Vergnügen, uns die Wartezeit auf das Erscheinen des Herrn in den Adventswochen bei Jahresrest-Sonne in Westeuropa & auf den Kanaren zu vertreiben und »in gemütlich ungezwungener Atmosphäre bei Spaß und guter Unterhaltung … gute Gastfreundschaft zu erleben«.
So jedenfalls versprach es der fahrtbegleitende Reiseführer, und diese Verheißung materialisierte und personifizierte sich in unserem Falle durchaus. Das betraf den fliegenden norwegischen Kapitän Morten Hansen, der sich in jahrzehntelanger Pflichterfüllung vom Decksjungen bis zum sturmgegerbten Schiffschef hochgedient hatte, ebenso wie den deutschen Kreuzfahrtleiter Joachim Gleiß, einen studierten Juristen und überzeugten Weltenbummler, den professionellen bulgarischen Alleinunterhalter Angelo, die philippinischen Gastronomen in der unübertrefflichen Schiffsküche und in den Restaurants sowie die Kabinenstewards Edvard und Ariel, die täglich unsere Badetücher wechselten, die Schlafstätten richteten und uns spätabendlich mit einem Schlummernaschwerk auf die Pfühle lockten.
Die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der gesamten Crew vermisste man schmerzlich, nachdem man in Berlin wieder die Angsttiraden vor Flüchtlingen las, in den überfüllten Nahverkehrsmitteln misstrauisch nach potentiellen Taschendieben Ausschau hielt oder dazu gezwungen war, in der U-Bahn das überflüssige Handygesülze der Mitfahrer, Mittrinker oder Mitesser zu ertragen.
Ich schreibe diese Nachbetrachtung nieder, weil wir von diesen Reiseerlebnissen noch Wochen nach der Tour stark beeindruckt sein werden. Und ich bringe das in Anerkennung und in Hochachtung vor jenen Verantwortlichen aufs Papier, die sich als Crew-Offiziere oder Reiseleiter nicht nur um das Wohl der Reisenden bemühten, sondern mit Vernunft und durch ihre Vorbildwirkung erreichten, dass an Bord nicht nur eine ungezwungene Atmosphäre herrschte, sondern auch den nationalen Besonderheiten und religiösen Riten und Gewohnheiten des Personals zum Nutzen aller einfühlsam Rechnung getragen wurde.
Es wäre wunderbar, wenn diese Erfahrungen auch von der übergeordneten Politik aufgegriffen werden könnten. Dann würden wir den Vorgaben der Arche Noah und des Kreuzfahrers Albatros vielleicht ein wenig näher kommen – und das nicht nur in der Weihnachtszeit.